Materialien 1977
Wie die Fetischleute das Christentum verbreiten helfen
Beten statt Bumsen
Jeden zweiten Freitagabend stehen sie vor dem Kultusministerium am Salvatorplatz und beten. Sie beten nicht etwa für den Frieden in der Welt, auch nicht für die Gesundheit des katholischen Kultusministers Maier, nein, ihr „Gebetssturm“ soll Bayern vor dem Sittenverfall retten. Sie kämpfen mit Gebeten und Broschüren gegen die „Unscham“, oder, wie es in ihrem Traktätchen mitunter auch heißt: gegen die „Entwelschung“ gegen das „Schweinigeln“ oder die „Sauglocke läuten“. Sie, das ist der Freundeskreis Maria Goretti e.V., eine Vereinigung rechtsradikaler Katholiken, die ihre Zentrale in der Planeggerstraße 22 b errichtet hat und von dort aus mit Flugblättern, Gebetsbildchen, Broschüren, Büchern und Cassetten die „Zwangssexualerziehung“ in der Schule attackiert.
Eine der Oberkombattantinnen ist die 47-jährige frühere Volksschullehrerin Hilde Bayerl, die ihren Kindern jahrelang beibrachte, dass eins und eins zwei ergeben. Als man von ihr dann das Geständnis verlangte, dass die Lösung mitunter auch „drei“ lauten kann, blieb sie der Schule fern und wetterte seitdem von München aus gegen die ihrer Meinung nach zu laschen Katholiken:
„Falschmünzer am Werk! Unter den Sex-Aufklärern gibt es eine ganz be- sonders gefährliche Gruppe: jene, die ihre neuheidnischen Ideen unter dem Mantel der Frömmigkeit ausbreiten. Im zunächst konservativen Bayern wäre man niemals einem ehrlichen Linken gefolgt. Dass die Schulsexual-‚Erziehung’ hier überhaupt eingeführt werden konnte, ist vor allem das ‚Verdienst’ eines Mannes, der praktizierender Katholik ist, dessen Bücher in Schriftenständen katholischer Kirchen auftauchen, der Mitglied der Kommission Sexualerziehung ist – einer Kommission, die im Auftrag der deutschen Bischöfe im Katholischen Zentralinstitut für Ehe- und Familienfragen die Neuerscheinungen auf sexual-pädagogischem Gebiet überwacht: es ist der Schulrat Richard Härtter aus München!“
Ihr zur Seite bläst Dr. Rita Stumpf, eine 53-jährige Mutter von drei erwachsenen Kindern aus Dorfen bei Wolfratshausen, den „Gebetssturm“ kräftig mit an. Sie beklagt sich, dass in den 9. Klassen der Hauptschulen Themen wie Prostitution, Homosexualität und Abtreibung behandelt werden, Themen, „von denen laut Heiliger Schrift nicht einmal erwachsene Christen reden sollten“. Sie droht den Vertretern der Sexualerziehung: „Solche Verführer würden mit einem Mühlstein in der Tiefe des Meeres versenkt werden“, denn „die sexuelle Enthemmung enthemmt auch auf allen anderen Gebieten. Streng wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass der sexuell enthemmte junge Mensch auch auf allen anderen Gebieten enthemmt wird. Wenn also die Geschäftsleute über das Ansteigen der Ladendiebstähle durch Kinder klagen, wenn von Einbrüchen, Raubüberfällen und sogar Mordtaten Jugendlicher immer häufiger berichtet werden muss – die Wurzel ist in der sittlichen Enthemmung der Kinder zu suchen.“
So geht es also weiter. Der Freundeskreis Maria Goretti hat auch Alternativen zur heutigen Sexualerziehung anzubieten. Etwa so:
„Ja, es ist so, wie du gehört hast oder wie du vermutest. Der HERRGOTT hat Mann und Frau so geschaffen, dass ihre Körper aufeinander bezogen sind. Nach dem Willen des Schöpfers soll aus dieser Bezogenheit die Nachkommenschaft entstehen. Jeder Gebrauch dieser sogenannten geschlechtlichen Kräfte außerhalb der Ehe ist durch das 6. Gebot untersagt. Da jede überflüssige Beschäftigung mit Dingen, die uns zur Sünde verlocken können, zu meiden ist, musst du also die Gedanken über das Geschlechtliche, erst recht Gespräche und schamlose Bilder von dir weisen. Gebet und Übung in der Selbstbeherrschung werden dir helfen, den Kampf um die heilige Reinheit siegreich zu führen.“
Oder auch so:
„Wie vorsichtig arbeitet doch die Natur! Lange Monate vor der Pracht der Baumblüte umhüllt sie die zarte Knospe mit harten, lederartigen, sicher abdeckenden Schalen. Fallen diese ab, sind abermals schützende Hüllen da: die grünen Kelchblätter. Und nochmals umgeben – ein dritter Schutz – lichte Blütenblätter die zarten Gebilde von Stempel und Staubgefäßen bei unguter, rauher Witterung. Wem würde es einfallen, diesen Prozess ‚verbessern’ zu wollen, indem er Stempel und Staubgefäße rücksichtslos bloßlegt? Sie müssten ja verkümmern, verdorren, verfaulen …“
Deshalb fordert sie:
„Man streiche also das ‚Fach’ Sexualkunde! Man helfe stattdessen willensstarke und innerlich frohe Menschen schaffen! Diese Tugend geht mit Reinheit Hand in Hand. ‚Wem Wollust nie den Nacken bog – Und der Gesundheit Mark entzog – Dem steht ein stolzes Wort wohl an – Das Heldenwort: Ich bin ein Mann!’ (Bürger). Tatsächlich: ‚Reinheit ist die Atmosphäre, in der die Liebe atmet.’ (Paul VI. 13. September 1972). Man gestatte den Ausdruck unserer Sorge: Schamlosigkeit treibt in die Zersetzung; macht bankrott.“
Noch lieber wäre es aber der Frau Stumpf, wenn die Kinder auf der Straße anstatt in der Schule aufgeklärt würden, denn: „… Auf der Straße wissen die Kinder, dass sie über was Schlechtes reden.“
Treu und unverzagt finden sich deshalb an jedem zweiten Freitagabend zwanzig bis dreißig Anhänger des Freundeskreises Maria Goretti an der Eingangspforte zum Kultusministerium ein um den Bußrosenkranz zu beten. Das dauert selbst bei flinken Zungen nicht unter eineinhalb Stunden, doch bisher war der Effekt gleich Null. Kein Wunder, der Teufel hat sich selbst in den Hochburgen der Katholischen Kirche eingenistet. In dem vertraulichen Rundschreiben teilt der Freundeskreis mit:
„Gegen Ende des Jahres 1973 ‚zierte’ den Arbeitsraum des Herrn Dr. Böhringer die Großaufnahme einer nackten Frau in anderen Umständen, Seitenansicht, schwarz-weiß. Dr. Böhringer, katholischer Priester, ist Leiter des Referates Sexualerziehung am Institut für Bildungsplanung und Studieninformation in Stuttgart – also jener Mann, der die Weichen für die Sexualerziehung im Land Baden-Württemberg stellt.“
Die Anhängerinnen und Anhänger der Maria Goretti, die 1902 als zwölfjährige an den Verletzungen starb, die sie erlitt, als sie einen jungen Mann abwehrte, der sie vergewaltigen wollte, fordern deshalb: „Der Wille muss geformt sein, der Charakter gestählt“ und zwar, „bevor Syphilis den Gaumen wegfrisst und Kinder durch das Gift der Gonorrhoe blind zur Welt kommen, unheilbar“. Deshalb:
„Wehe uns Erwachsenen, wenn wir nicht mit aller Kraft die Ideen der Sex-Propheten bekämpfen, die die Geschäfte der Marxisten besorgen, wenn wir nicht die Abschaffung der menschenunwürdigen, perversen ‚Schulsexualerziehung’ fordern und für dieses entscheidende Anliegen beten!“
Das tun sie auch. Jeden zweiten Freitagabend um 19 Uhr auf dem Salvatorplatz. Die Besichtigung dieses Panoptikums moderner Teufelsaustreiber ist zu empfehlen. Es kostet auch nichts.
Peter Schult
Blatt – Stadtzeitung für München 90 vom 18. März 1977, 18 f.