Materialien 1977

Einzelgänger

»Ich wollte nicht weiter zur Schule gehen. Außerdem wollte ich meine Mutter entlasten und ehrlich gesagt, habe ich auch den Weiberhaushalt nicht mehr ausgehalten: da waren die Mutter, meine vier Schwestern, die Großmutter und die Urgroßmutter. Keine Mannsperson weit und breit.

Im Bergbau haben sie gerade Leute gesucht, in der Steinkohle. Da bin ich mit fünfzehn hin, in die Zeche >Rosenblumen-Delle< und habe dort eine richtige dreijährige Ausbildung zum Knappen ge-
macht.

Der Name Lea stammt ursprünglich aus Oberschlesien. Im 17. Jahrhundert hieß es noch Glea. Meine Vorfahren waren Handwerker: Schuster, Schreiner, Zimmerleute, die über Thüringen und Sachsen nach Pommern gekommen waren. Dort bin ich geboren. 1945 kam dann die Flucht nach Westen. Wir sind in Teufelsmoor bei Worpswede gelandet.

Nach dem Bergbau wollte ich eigentlich zur See fahren, aber irgendwie brauchten sie da keinen. Zur Bundeswehr hätte ich können, aber ich war dagegen, dass Deutschland wieder militarisiert wurde. Da bin ich dann zu einer Spedition und habe dort noch zwei Jahre gelernt.

Danach bin ich auf Wanderschaft, wie meine Vorfahren: Schweiz, Frankreich. Hier einen Job, da einen Job. Ich wollte eigentlich gar nicht nach Deutschland zurück, mir passte die ganze Nach-
kriegsmentalität nicht. Da sah ich zu wenig Aufarbeitung von psychischen und politischen Kon-
flikten aus der Nazizeit.

Heute bedaure ich es noch manchmal, dass ich mit 19 nicht nach Kanada gegangen bin. Ich hatte eigentlich nie Probleme, mich zu ernähren. Da gab’s immer Hochs und Tiefs, aber die Existenzäng-
ste, die andere befallen, hab’ ich nicht. Man kriegt so eine gewisse Hornhaut gegenüber der Angst. Es entwickelt sich ein Automatismus, der einen immun gegen Angst macht. Weil man ja nie in Sicherheit gelebt hat.

In Paris riet mir ein amerikanischer Gitarrist, ich solle doch nach München gehen. Das tat ich dann auch und lernte bald ein paar Leute kennen: Studenten, Maler, Schriftsteller, Musiker. Dieser Kreis gefiel mir, München allerdings weniger. Ich hatte Eingewöhnungsschwierigkeiten, weil die meisten so ganz andere Interessen hatten als wir. In Basel hatte ich eine vergleichsweise heilere Kulturwelt vorgefunden. Da bin ich dann zwischen München und Basel hin- und hergependelt.

Ich habe immer gezeichnet und geschrieben: Gedichte und Kurzgeschichten. Im Grunde bin ich ein Einzelgänger. Manchmal beteilige ich mich an Gruppen, klinke mich aber auch wieder aus. Wenn wie bei Bürgerinitiativen ein Ziel erreicht ist, oder wenn ich mich verändere oder die Gruppe.

Diese Bürgerinitiativen sind für mich das Wichtigste, was 1968 hervorgebracht hat. Ich habe bei der vom Nikolaiplatz mitgemacht, aus der schließlich die Seidlvilla hervorgegangen ist, bei der Aktion Maxvorstadt, die ja auch einiges gestoppt hat, bei der von der Münchener Freiheit, die die Bebauung verhindert hat. Alle sind sie in Schwabing oder der Maxvorstadt entstanden und haben etwas bewirkt. Gruppen, in denen sich viele Einzelgänger fanden wie der Ali Mitgutsch, der Kin-
derbuchautor, oder ich.

Von 64 bis 69 habe ich hier in München eine Zeitschrift herausgegeben, >Mama<. Sie war hekto-
grafiert mit Beiträgen von gleichaltrigen Künstlern: Schriftstellern, Malern, Musikern. Ich habe selber auch Beiträge gezeichnet. Seither kennen wir uns intensiver. Eine Zeitschrift hat ja durchaus Ähnlichkeit mit einer Galerie.

Ein paar Monate war ich in Berlin, im Literarischen Kolloquium am Wannsee. Zu der Zeit war auch das Living Theatre in Berlin, es war eine heiße Zeit! Dann habe ich mit dem George Moorse Drehbücher geschrieben: >Der Griller<, >Kuckucksjahre<, >Liebe und so weiter<. In der Zeit, so in den Jahren 67/68, hat mir ein Herr vom Einwohnermeldeamt vorgerechnet, bin ich vierzig Mal umgezogen. Innerhalb von Schwabing und der Maxvorstadt.

Politisches Bewusstsein habe ich immer gehabt, das lernt man schon untertage, aber dass man sich 68 schon gleich so festlegen musste, hat mir nicht gefallen. In den 70er Jahren ging ich in Richtung >Trikont<, wählte aber SPD. Eine Zeitlang war ich sogar Parteimitglied. Später habe ich mehr grün gewählt.

Als ich hier in die Blütenstraße 1 einzog, wohnte ich erst illegal im Keller. Der Keller gehörte der Katja von >Osiris<. Als dann im ersten Stock die beiden Räume frei wurden, habe ich die bekom-
men. Gleichzeitig lernte ich eine Frau mit Wohnung kennen. Da zog ich zu ihr und aus den beiden Räumen wurde eine Galerie. Sie hieß >Alternativgalerie< und wurde am 7.7.1977 eröffnet. Jetzt heißt sie Galerie Klaus Lea, seit acht Jahren.

Die Idee war: Münchner Maler auszustellen, die bisher keine Chance hatten. Davon gab’s ja genü-
gend.

Geld war keines da. Ich habe aber mit Wändeweißeln soviel verdient, dass ich das finanzieren konnte. Es waren Ausstellungen in Kommission. Wenn nichts verkauft wurde, hat der Künstler seine Sachen nachher wieder mitgenommen. Dass ich ein Bild behielt, war keine Bedingung.

Über die Jahre wurde dann der eine und andere Raum frei und ich hatte schließlich die ganzen vier Zimmer. Das war ursprünglich eine Wohnung, eine ziemlich verwahrloste nach dem Krieg: ohne Heizung mit uralten Fenstern.

Als die Amalienpassage fertig war, ich hatte gerade in der >Oase< den Architekten von Gagern kennengelernt, und der hatte mich gefragt, ob ich nicht die leerstehenden Ladenräume wollte, da hatte ich auf einmal 240 qm Ausstellungsfläche im Neubau. Da habe ich das Kollektiv Herzogstra-
ße ausgestellt. Riesenverkäufe waren es nicht, aber ein bisschen ist doch gegangen. Man nannte es abstrakten Expressionismus. Von den Künstlergruppen und Kollektiven ist eigentlich nur noch >King Kong< übriggeblieben, >Kollektiv Herzogstraße< und >Weibsbilder< gibt es nicht mehr. Aber es ist eben auch nicht mehr die Zeit, als Gruppe in die Gesellschaft hineinwirken zu wollen, sie verändern zu wollen. Da sind die ökonomischen Zwänge zu groß.

Früher hat man ja auch in WGs gelebt, ich mit der Gruppe >Embryo<, mit denen ich auch zwei Jahre bis 1977 durch Europa getingelt bin. Heute muss ich nicht mehr unbedingt reisen. Geheiratet habe ich nicht, aber ich habe einen Sohn. Einen ausländischen Sohn, der bei seinen Großeltern in Italien lebt und in den Ferien hierher kommt. Er ist lieber in München als in Mailand. Ich hätte auch geheiratet, wenn es nicht vorher gekracht hätte. Triff doch heute noch ein Paar, das länger als fünf, zehn Jahre zusammen ist! Überall erlebt man, dass es kracht und bröselt. Deshalb auch die allgemeine Desillusionierung. Ist ’ne Zeiterscheinung. Hat vielleicht etwas mit der Emanzipation der Frau zu tun und der Erleichterung im Haushalt.

Also wenn’s die Akademie nicht gäbe, gäbe es auch diese Galerie nicht. Ich hatte immer Freunde und Bekannte an der Akademie. Ich bin da ein- und ausgegangen, als gehörte ich dazu.

Jetzt spürt man nichts mehr von progressivem Geist. Das liegt aber nicht an den Studenten, son-
dern an den Professoren. Also aufregende Künstler nehmen sie schon gleich gar nicht. Dass der Robin Page da ist und die Professur bekommen hat – also er sei dazugekommen wie die Jungfrau zum Kind, sagt er selber. Er war an 5. oder 6. Stelle, aber die anderen alle sind abgesprungen. Er schimpft zwar immer auf die Deutschen, aber andererseits hat es ja was für sich, jeden Monat einen Scheck zu bekommen. Und das Bier schmeckt ihm hier auch besser als anderswo.

Alkohol gehört zum Maurer, zum Bergmann, zum Seemann genauso wie zum Künstler. In der Re-
gel trinke ich nur Bier und Wein, früher habe ich auch Schnaps getrunken. Ich trinke nicht jeden Tag. Aber man kommt ja ums Trinken nicht herum. Ich trinke, wenn’s mir gutgeht. Da werde ich dann leichtsinnig. Da kann es schon mal sein, dass ich zwei Tage ausfalle.

Früher ist man tage- und wochenlang in Kneipen herumgehangen: in grünem Anorak mit Mäd-
chen, die nach Patchouli rochen.

Und die Leute, die früher Poster gekauft haben, sind heute meine Käufer, also das geht quer durch die Bevölkerung. Besserverdienende wie Ärzte, Anwälte, Selbständige. Dass sich aber auch eine Verkäuferin einmal ein Bild kauft, hat es früher nicht gegeben. Aber klar, je mehr Menschen auf der Welt, desto mehr Künstler und desto mehr Käufer. Vor zwanzig Jahren gab es vielleicht 30 Galerien in München, heute sind es 300. In der Türkenstraße gab es die Frau von Laar, die ganz still neben dem Türkendolch moderne Kunst ausstellte. Sie hatte viele Adelige unter ihren Kunden, musste aber nach ein paar Jahren aufgeben.

Dann gibt es die Kunstbuchhandlung Goltz mit ihren Originalen zwischen den Katalogen und frü-
her gab es noch den Antiquitätenhändler Gunzenhauser in der Türkenstraße, der ist aber in die Maximilianstraße gezogen. Sonst gibt’s hier nichts an Galerien. Ich war nie in einer Preislage, die unbezahlbar war. Ich spüre nichts von Rezession wie die Galerien in der Maximilianstraße. Meine Bilder kosten zwischen 150 und 15.000 Mark, wobei die über 10.000 eine große Ausnahme sind.

Ich kenne nur wenige Künstler, die alleine von ihrer Kunst leben können. Eigentlich gar keinen (lacht) in meiner näheren Umgebung. Künstler sind oft Lehrer oder haben eine Lehrerin zur Frau.

Die meisten Künstler haben ja schon 20, 30 Jahre an ihrer Kunst gearbeitet, bevor sie berühmt werden. Steile Aufsteiger gibt es da wenige wie den Baselitz, der irgendwann aus Ostdeutschland rübergemacht hat und dann im Westen gleich in die Arme genommen und hochgejubelt wurde.

Für mich ist die Türkenstraße wie meine gute Stube. Das geht so weit, dass der Ringo sagt, wenn der Lea am Siegestor vorbei muss, braucht er ein Visum. (lacht) So ein Lokalpatriot bin ich. Ach ja, der Ringo Prätorius und ich, wir hatten mal vor, eine Oper zu schreiben, die den Titel gehabt hätte: >Die Mädels von der Türkenstraße mit den blankgewetzten Oberschenkeln< aber irgendwie (lacht) sind wir mit dem Konzept nicht weitergekommen. Das hätte ein Riesending werden müssen, ein richtiges Musical.

Nach meinen ersten Assimilationsschwierigkeiten habe ich eigentlich die bayerische Mentalität sehr gern gehabt: Bayern sind Kneipengänger, während sich die Norddeutschen eher zu Hause bedröhnen. Das hat mir zugesagt, das Bacchantische, die Lust am Augenblick, dann die Möglich-
keit des leichten Überlebens: an den Gassenschänken bekam man eine Suppe für achtzig Pfennig und in manchen Kneipen war das Brot umsonst.

Das hat sich aber stark geändert: die Bayern sind ja fast noch rigoroser im Geldscheffeln und Reichwerden als die Preußen. Statt >Ramadamma< heisst’s jetzt: >Raffadamma<.

Trotzdem ist die Gegend hier die, in der ich meine Träume verwirkliche. Das sieht man an der Galerie. Dass, was dort begonnen wurde, sich in die ganze Gesellschaft fortgesetzt hat.«

Klaus Lea erhielt 1995 den Schwabinger Kunstpreis.


Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 457 ff.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Kunst/Kultur

Referenzen