Materialien 1977

Roter Rübensaft

Eure Rüben sollten vor Scham rot sein – Eine Kritik am Theaterkollektiv Rote Rübe

Zu eurem Zirkus habe ich eigentlich nur noch zu sagen, dass ich es flach finde, wenn ihr euch mit der Darstellung von Symptomen und Mythen begnügt. Darüber hätte ich mit euch gern bei der an die Aufführung anschließende Diskussion geredet. Wie es zu dieser Diskussion nicht mehr gekom-
men ist, hat mich aber dann ganz schön fertig gemacht.

Angefangen hat es in einer Szene, wo ein Widerstandskämpfer im Knast von einem Killerkomman-
do erschossen wird. Eine Frau ist ausgeflippt, sie konnte es nicht mehr ertragen und wollte, dass ihr zu spielen aufhört. Kommentar einer Rübenfrau: „Wenns dir nicht passt, kannst du ja gehen.“ Sie aber wollte nicht, sondern sich mit euch jetzt darüber auseinandersetzen. Das Stück lief unter-
dessen reibungslos weiter. Die Hinrichtungsszene wird wiederholt. Da springt hinter mir ein Typ auf: „Das kann man doch nicht einfach so hinnehmen. Komm; wir machen was“, springt in die Arena und will den Killerschauspieler an der Erschießung hindern. Das Stück läuft weiter. Der Schauspieler holt aus und haut dem Zuschauer in die Fresse. Der ist so verdattert, dass er sich nur noch aufrappeln und aus der Arena gehen kann. Das Stück läuft immer noch weiter. So perfekt und nahtlos, dass sogar nach der Vorstellung immer noch Leute glauben, der Zuschauer gehörte zu eurem Ensemble. Es kommt zwar eine Rechtfertigung vom Schauspieler, der nach der Szene in die Arena kommt und meint, wenn er nicht zuerst geschlagen hätte, dann hätte ja wohl der andere zuerst geschlagen und dann wären die Sympathien des Publikums auf seiner (des Schauspielers) Seite gewesen, und so wäre es halt anders rum (was übrigens nicht gestimmt hat, weil viele Leute es als empörend empfunden haben, dass sich überhaupt jemand erdreistet und ein heiliges moder-
nes Theaterstück in seinem reibungslosen Ablauf stören will.) Aber trotzdem, das Spiel geht weiter bis zur Pause – ein Teil der Zuschauer ist ziemlich erregt. In der Pause wollten wir mit euch disku-
tieren. „Diskutiert doch mit euch selbst.“ Pausenmusik. Wir brüllen. Ihr kommt nicht raus. Wir wollen euch nach dem Stück zur Diskussion zwingen. Das Stück ist so schnell aus, ihr die Rüben und der größte Teil der Zuschauer seid so schnell weg, dass wir wieder allein da stehen. Eine Rü-
benfrau, die direkt angesprochen wurde, meinte, sie sei jetzt zu müde zu einer Diskussion, viel-
leicht ist ein anderer (hinter dem Vorhang versteckt) noch munterer. Eine Stunde später flippt ihr alle im großen Bierzelt rum.

Und genau dieses Raushalten von euch, diese Art „ich ziehe meine Show durch, alles andere inter-
essiert mich nicht“ finde ich echt beschissen. Das ist genau die Art von Unterhaltung, die ich jeden Abend über die anonyme Gleichmacherglotze in beschaulicher Isolation genießen kann. Wisst ihr überhaupt noch, dass ihr in euren Promotionstexten als „linkes Theaterkollektiv“ ausgegeben wer-
det? Ich habe den Eindruck gewonnen, ihr wollt euch vom linken Ghetto in die Kulturschickeria zurückziehen, weil ihr keine Alternative mehr seht – weder für die Gesellschaft noch für euch selbst. Und genau an diesem Punkt will ich euch mit den Worten von Günter Leerlauf auffordern, euch noch ein letztes Mal der Diskussion zu stellen, damit wir jetzt, wo ihr in die Resignation ab-
haut, euch die Fragen stellen können, deren Antworten unsere Eltern und Lehrer immer schuldig geblieben sind. Wir wollens für unsere Kinder festhalten – vielleicht unter dem Titel „Der unver-
meidliche Weg in die resignierte Bourgeoisie“.

Karin


Blatt – Stadtzeitung für München 108 vom 1. Dezember 1977, 47.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Kunst/Kultur

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