Materialien 1977

Schulbuchsäuberung

Goebbels is back in town

Die Heilige Bayerische Inquisition vom Salvatorplatz schlägt mit der beliebten christlichen Unbarmherzigkeit zu. Wohl ermuntert von den reizenden „Gebetsstürmen“ des Freundeskreises Maria Goretti, der sich dort vor dem Kultusministerium – angeblich wöchentlich – im heroischen Kampf gegen den Sexualkundeunterricht austobt, geht es nun an die endliche Desinfizierung der Schullesebücher von linken Bazillen. Statt den lieben Kleinen die ausgesprochen terroristische Literatur der Biermann, Wallraff, Fichte, Fried zur Abschreckung zu lassen (aber, warnendes Beispiel: auch der Sexualkundeunterricht nahm bislang nicht die sündige Lust am Geschlechtsverkehr …), schlägt das Kultusministerium unter Orgel-Maier, dem Schrecken der Politologie, zu, und zwar erpresserisch in einem Brief an den Verlag mit dem Entzug der Zulassung für den Schulgebrauch in Bayern drohend. Es handelt sich um Bender, Deutsches Lesebuch für Gymnasien, Bände 1 – 5.

Der Brief fordert die „Herausnahme bzw. Ersetzung“ von Texten Frieds, Biermanns, Wallraffs und Fichtes in den Bänden 1 – 4 und stellt für Band 5 lakonisch fest, dass er nicht der „Intention“ der bayerischen Lehrpläne entspreche: Die Zulassung wird mit Ablauf des Schuljahres 1977/78 entzogen. Bekanntlich schreibt die Bayerische Verfassung als oberstes Erziehungsziel Ehrfurcht vor Gott vor. Die Lehrpläne dürften entsprechend sein. Gegen das Verfassungsgebot verstieß allerdings Fichte lästerlich durch die Verächtlichmachung der christlichen Institutionen Osterhase und Weihnachtsmann. Die anderen Texte sind nachweislich entschieden harmlos – bis auf ein Gedicht von Fried, das unchristlich die Krone der Schöpfung, das Ebenbild Gottes, beleidigt:

„Antwort / Zu den Steinen / hat einer gesagt: / seid menschlich / Die Steine haben gesagt: wir sind noch nicht / hart genug.“ Das ist freilich krass und ließ die Herzen der menschlichen Kultusbürokraten erstarren. Die anderen Sachen aber sind wirklich milde, und es erweist sich, dass es um die Autoren selber gehen muss, die wohl dringend des Sympathisantentums verdächtigt werden. So wird der Exorzismus durchgeführt. Wohl weniger nach dem Grundgesetz, das scherzt, eine Zensur fände nicht statt, sondern eher nach dem Rituale Romanum oder dem Malleus maleficarum. Verflucht sollen sie sein, die linken Teufel und Hexer.

Ich bin mit Benders Lesebuch aufgewachsen, kann mich jedoch an mehr als den grünen Einband und die gepflegte Langeweile, ja narkotische Wirkung des Inhalts nicht erinnern. (In Hessen, das bald unter Dregger auf den rechten Weg kommen wird, lehnt man dies Lesebuch als zu konservativ ab …) Inzwischen muss sich Benders Werk radikal gewandelt haben, weil die Systemveränderer bekanntlich schon überall die unbewacht rumliegende Macht ergriffen haben und dem berüchtigten Kommunisten Biermann Einlaß in unschuldige Lesebücher verschafften, wo er versucht, unsere Kinderchen dem Satanismus von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, also dem höllischen Stalinismus, zuzuführen. Am Salvatorplatz weiß man um die Tücke des Bösen so gut wie im Erzbischöflichen Palais. Der Teufel kennt viele Verkleidungen, uns zu verwirren.

Aber im Ernst: anerkennenswert ist die Ehrlichkeit, die in Bayern herrscht, lobenswert das freie Bekenntnis zum Prinzip der Zensur. Da weiß man, woran man ist – und kann sich Ärger mit der Staatsanwaltschaft ersparen. Noch ein paar kleine organisatorische Verbesserungen, und man gibt seine Texte an die Zensurbehörde oder an die Inquisition, und was das Imprimatur hat, kann für alle Zeit und Ewigkeit ungefährdet von Staatsanwalt Dr. Gehrig, dem lieben Eiferer, gedruckt und gelesen werden. Zurückgewiesene Passagen müssten umgeschliffen werden – der Aufschwung der Satire und des Stilgefühls wäre gewaltig wie sonst nur die Mühen der Strafverfolgungsbehörden, die sich an berechtigten Schimpfworten abrackern, und wir kämen vielleicht auf die Wahrheit des schönen Satzes von Karl Kraus: „Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.“

Man wüsste tatsächlich, woran man ist, und wüsste auch, dass man mindestens einen aufmerksamen Leser hätte. Aber wir leben ja bekanntlich im freiesten Staat, der je auf deutschem Boden undsoweiter undsofort – nirgends wird das so oft beschworen als wo es nötig ist – an Zensur ist nicht zu denken, es werden nur zarte Ratschläge an Schulbuchverlage erteilt; Rundfunkredakteure wissen eh schon, was sich an Ausgewogenheit schickt, mit Zensur ist da nichts drin, Verfassungsbrüche finden hier nur ausnahmsweise statt, unser freiester Staat usf. ist ja sowieso gebunden, weil seine Führer und Büttel immerzu mit dem Grundgesetz unter einem Arm (und den „das Nähere regelnden“ Gesetzen unterm andern) prügeln, abhören, verhaften, isolieren, durchsuchen, demolieren – und andere Sachen, die man nicht behaupten darf, weil wir ja bekanntlich der freieste Staat usf. sind.

Kurz: Strauß ante portas. Und da wird noch bekanntlicher bis zum Ende des Jahrhunderts das Maul gestopft. Nein, nein, eine Zensur findet nicht statt, nur die Nach-Zensur durch den Staatsanwalt; Kunst und Wissenschaft und ganz besonders die Gedanken sind unerhört frei, denn wir leben ja bekanntlich im freiesten usf., und die Freiheit ist bekanntlich (Scheels Weihnachtsandacht) erst dann so richtig richtige Freiheit, wenn sie sich selbst ihre Grenzen setzt; das ist zwar hegelianische Dialektik, doch die Kindergartenbevölkerung hat bekanntlich freiwillig die Kultusbürokraten und andere Bonzen gewählt, wir beschränken also die Freiheit weise selbst, damit sie erst so richtig zu sich kommt und damit wir dann erst so ganz richtig heimelig, gemütlich und konzentriert frei sind. Da ist dann alles in Butter (und Kanonen, freilich).

Vor 40 Jahren sang man hier, zum großen Teil freiwillig, wenn auch beschränkt, das Horst-Wessel-Lied: „… der Tag für FREIHEIT und für Brot bricht an …“ Und über einem KZ-Tor hieß es: „Arbeit macht FREI“. Das sind so die Auswüchse, wenn die Selbstbeschränkung der Freiheit ein wenig überhand nimmt. Heute ist das – bekanntlich – ganz anders. Die Freiheit kommt zu sich selber, da wird folgerichtig Degenhardt nicht im Rundfunk gespielt, Ulrike Meinhofs Stück „Bambule“ für alle Zeit abgesetzt; während der Schleyer-Affäre änderte sich das Fernsehprogramm oft in rührender Sorge um das Schicksal des Entführten; „Die Gerechten“ von Camus und Bölls „Katharina Blum“ verschwanden von Spielplänen, Sartre hatte es schwer auf den Bühnen, Staeck wird in seine Schranken gewiesen und ein verrückt gewordenes Gericht bescheinigt ihm „faschistische Machart“; und Dichter wie die Rinser und Peter O. Chotjewitz mit der aufreizenden Neigung, zu viel vorzulesen, werden vor Überanstrengung bewahrt und auf ihre Hauptaufgabe, die freiheitlich-demokratische Dichterei im stillen Kämmerlein, verwiesen – und und und.

Was brauchen die unmündigen Kindlein denn Wallraff, wo es Ganghofer gibt und Meister Rosegger und die gesammelten Reden von FJS? So meint das Kultusministerium denn auch: Es „sollten einige Texte aufgenommen werden, die für Bayern regionaltypisch sind.“ Momentan ist das der Brieftext noch. Aber die Biermann, Fried, Wallraff, Fichte: keiner von ihnen war auch nur dazu fähig, Bayer zu sein! Landfremde Vaganten, vaterlandslose Gesellen, wollen die bodenständigen Bier-Hirnlein unserer lieben Kleinen vergiften, und zwar, raffiniert!, zuerst mit unpolitischen Gedichten, um mit der dadurch erzeugten Sensibilität, Schwäche, Anfälligkeit für Theorie, Vernunft oder was weiß ich, sie dann sofort dem Kommunismus und Terrorismus zuzutreiben! Ich wette 1 Kommunistisches Manifest gegen 10 Gebetbücher, jeder „Terrorist“ hat schon einmal ein Gedicht eines dieser Autoren, nie aber die Bücher von FJS gelesen – wiewohl dann erst die Entwicklung so recht verständlich würde …

Freiheit oder Gedichte, das ist hier die Frage! Freiheit oder/statt gewisse Autoren! Denn deren bloße Existenz ist ein crimen laesae maiestatis, wenn nicht gleich eine dicke Gotteslästerung! Man muss wirklich annehmen, dass die Kultusverwalter zwar ihre Gesangbuchstexte und das CSU-Programm kennen, die inkriminierten Texte in ihrer kompletten Harmlosigkeit aber nicht verstehen und bloß die Autoren überhaupt verbannen wollen. Ja freili, wenn es denen hier, in diesem unsern Lande, nicht gefällt, dann sollen sie doch in die Zone gehen – speziell der Kommunist Biermann! – statt hier freiheitlich-demokratischen Lesebuchboden zu okkupieren!

Was auffällt, ist aber doch wieder die Mäßigung, die bei der Zensur-Erpressung statt hat. Bloß vier Autoren! Wie viel geht ihnen da durch die Treibjagd-Lappen! Wie aufschlussreich lächerlich könnten sie sich machen, wenn sie endlich an die Reinigung der gesamten deutschen Literatur gingen! Und: was gibts noch für schöne althergebrachte Listen, Beschlüsse, auf die man zurückgreifen könnte: auf den Index librorum prohibitorum; auf das Wöllnersche Zensuredikt; auf die Karlsbader Beschlüsse; auf das Bismarcksche Sozialistengesetz; und auf die Bücherbrandlisten des Goebbels, die heute gewiss wieder manchen Beifall fänden. Schon wieder einmal bricht die spezifisch deutsche Freiheit aus, und wieder scheint sie von München, der Hauptstadt solcher Bewegung, auszugehen.

Goebbels lässt grüßen.

Post sriptum

Inzwischen wurde die Zulassung für alle fünf Bände entzogen, wiewohl der windelweiche Verlag zu einer bayerischen Sonderausgabe bereit war. Die gar nichts zu sagen haben, also in diesem sympathischen Staate des freiheitlich leeren Pathos-Geschwätzes alles zu sagen haben, werden verkünden: die Ablehnung bestimmter Lesebücher oder bestimmter Teste „linker“ Autoren sei eine ganz normale Verfügung. Aber ja, sie haben recht und ihr Recht, das ist hierzulande eine stinknormale Sache, an die kein Hund mehr riecht.

Heinz Jacobi


Der Bote Nr. 8. Der Martin-Greif-Bote. Die politisch-literarische Zeitschrift aus der Martin-Greif-Straße, München 1978, 17 ff.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: SchülerInnen

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