Flusslandschaft 1960

Notstandsgesetze

Bundesinnenminister Gerhard Schröder forderte 1958 zum ersten Mal ein Notstandsgesetz. Am 18. Januar 1960 verabschiedet das Bundeskabinett den 1. Entwurf für ein Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes („Schröder-Entwurf“). Für den Ernstfall eines Krieges plant die Bundesregierung Gesetze, die die Grundrechte einschränken: Recht auf körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person, freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 GG), Freizügigkeit (Artikel 11 GG), Freiheit vom Arbeitszwang (Artikel 12 GG), Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 GG), Unverletzlichkeit des Eigentums (Artikel 14 GG). Die tendenzielle bzw. schrittweise Aufhebung der im Grundgesetz garantierten Bürgerrechte erinnert an das Ende der Weimarer Republik, als mit der Verabschiedung des so genannten „Ermächtigungsgesetzes“ den Nationalsozialisten der Weg geebnet wurde, die politische Herrschaft ohne Verfassungsbruch übernehmen zu können. (Es fand 1933 keine „Machtübernahme“, sondern eine „Machtübergabe“ statt.) — Die Gewerkschaften sehen in den geplanten Notstandsgesetzen Sondergesetze gegen den „inneren Feind“. Sie befürchten, dass die neuen Gesetze als erstes gegen sie zur Anwendung kommen. Aber auch andere gesellschaftliche Gruppen befürchten Schlimmes. Viele Schlüsselstellungen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft sind noch immer von Angehörigen der ehemaligen NS-Elite besetzt. „Bei diesen konnte man nicht sicher sein, ob sie sich in einer extremen Situation an demokratische Spielregeln halten würden oder sich als ‚trojanische Pferde’ erwiesen. Auch einige Bundesministerien galten hinsichtlich ihrer Personalstruktur als nicht unproblematisch. So sind an dieser Stelle als Beispiele das 1951 gegründete Auswärtige Amt zu nennen, in dem nach Verlautbarung eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages eine Quote von 66 Prozent ehemaliger Nationalsozialisten erreicht wurde. Auch die Geheimdienste und die 1955 entstandene Bundeswehr setzten sich zum Großteil aus zumindest nicht demokratisch gesinntem Personal zusammen. Darüber hinaus mussten schon im gesamten öffentlichen Dienst in Bund, Ländern und Gemeinden laut Bundesgesetz ab Mai 1951 jeweils 20 Prozent Bewerber aufgenommen werden, die als ‚Belastete’ 1945 oder danach entlassen worden waren.“1 Der Streit um die Notstandsgesetze beginnt.2


1 Heiko Drescher, Genese und Hintergründe der Demonstrationsstrafrechtsreform von 1970 unter Berücksichtigung des geschichtlichen Wandels der Demonstrationsformen, Phil. Diss., Düsseldorf 2005, 68 f.

2 Vgl. Jürgen Seifert: „Verfassungspatriotismus im Streit um die Notstandsgesetzgebung. Erinnerungen aus der Zeit, in der ich ‚Notstands-Seifert’ genannt wurde“ in vorgänge 155 Heft 3 vom September 2001, 93 ff.

Überraschung

Jahr: 1960
Bereich: Notstandsgesetze