Materialien 1978

Unwürdige Greisinnen

Sonntagnacht, ein paar Hauseingänge neben dem Blatt. Ich will ins Auto steigen, da geht mir etwas aus der Unterhaltung dreier Damen zwischen, geschätzt, 60 und 70, ins Ohr und bewog mich, stehen zu bleiben und zuzuhören. Sie standen vor einer Haustür. Ich fummelte am Auto herum: das Schloss ging wirklich nicht; war ja auch ein Blatt-Auto.

♀ Also wir hauen jetzt ab, sagte die eine.
♀ Wir schauen erst noch zu, ob du das Schloss aufkriegst, sagte die andere.
♀ Warum sollte ich’s nicht aufkriegen? Da! (Sie fummelt mit dem Schlüssel am Schloss herum.) (Hier ging mein Schloss auf.)
♀ Also, wir hauen ab. So in ein, zwei Stunden kommen wir wieder vorbei und schauen, wie’s Ihnen geht, und dann gehen wir zusammen einen saufen!
♀ Also, bis dann, sagte die Dame, die in dem Haus wohnt, und öffnete die Tür.

Ich ließ den Motor an und fuhr los. Dann dachte ich: Ich hätte sie fragen sollen, ob ich sie irgendwo hinfahren kann. Aber dann dachte ich: ich fahre ja nicht weit.

Und dann fiel mir auf, dass die drei Frauen ein Tausende Male gesehenes Bild NICHT gezeigt hatten: jenes nächtliche leise Reden, jenes ängstliche Zurückweichen und vorher mit vorsichtigen Blicken beargwöhnen, wenn ich auf so eine Gruppe zukomme, – und dann fand ich, was in ihrem Bild sonst noch fehlte: der Mann. Sie standen bequem, beweglich und breit da, sie wichen nicht zurück, als ich vorbei wollte. Es war ein schönes Bild.

Jo


Blatt. Stadtzeitung für München 115 vom 24. Februar 1978, 17.

Überraschung

Jahr: 1978
Bereich: Frauen

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