Materialien 1978
Siemens
Am 19. April 1978 fand bei SIEMENS in der Martinstraße die diesjährige Betriebsratswahl statt. Bei den früheren BR-Wahlen gab es immer nur eine Kandidatenliste und damit Persönlichkeits-
wahl, d.h. jedes Belegschaftsmitglied konnte die Kandidaten seiner Wahl ankreuzen, auch wenn sie ganz hinten auf der Liste standen. Dadurch war es bei der letzten BR-Wahl gelungen, einige konsequente Gewerkschafter, die den partnerschaftlichen Kurs der Mehrheit kritisierten, in den BR zu wählen. Diesmal jedoch stellten sich neben der offiziellen IG-Metall-Liste noch zwei weitere Listen zur Wahl, so dass jeweils nur noch eine Liste gewählt werden konnte, womit nur die Inha-
ber der ersten Listenplätze eine Chance auf einen Sitz im BR hatten.
Dieser Zwang zur Listenwahl ergab sich dadurch, dass sich im Frühjahr eine offensichtlich von der Geschäftsleitung geförderte „Unabhängigen“-Liste bildete. Damit wurde wohl einer Empfehlung des bayer. Arbeitgeberverbandes entsprochen, Persönlichkeitswahlen zu verhindern, um die IGM-Vorherrschaft zu brechen und unternehmerfreundliche Leute in den BR zu bekommen. Somit kam der Reihenfolge der Kandidaten auf der IGM-Liste besondere Bedeutung zu. Der zwischen der ge-
werkschaftlichen Vertrauenskörperleitung und der IGM-Ortsverwaltung ausgehandelte Listenvor-
schlag wurde vor den betrieblichen Vertrauensleuten jedoch so lange geheim gehalten, bis sich auf der entscheidenden Sitzung schließlich herausstellte, dass alle oppositionellen Kandidaten auf aus-
sichtslose Plätze abgeschoben waren. Daraufhin zogen 12 Bewerber aus Protest ihre Kandidatur zurück und entschlossen sich zur Aufstellung einer eigenen Liste „Alternative“. Bei den BR-Wahlen rutschte dann die IGM-Liste auf 49 Prozent ab, die „Unabhängigen“ erhielten 16 Prozent und die „Alternative“ 34 Prozent und damit 6 von 19 BR-Sitzen.
Trotz dieses Vertrauensverlustes hatte die ehemalige BR-Mehrheit nichts besseres zu tun, als sämtliche wichtigen Positionen mit ihren Leuten zu besetzen und bei den Abstimmungen mit den „Unabhängigen“ zu stimmen, die im Wahlkampf noch von ihnen als unternehmerhörig bezeichnet worden waren.
Es kam jedoch noch dicker: nachdem die in den BR gewählten Kandidaten der „Alternative“ zu-
nächst ein Glückwunschschreiben der IGM-Ortsverwaltung erhalten hatten, bekamen sie einige Tage später ebenfalls von dort eine Mitteilung über ein Ausschlussverfahren wegen gewerkschafts-
schädigenden Verhaltens.
Um diese Ausschlüsse zu verhindern, da dadurch eine an den Interessen der Belegschaft orien-
tierte Gewerkschaftsarbeit zerstört würde, bitten die Kollegen der „Alternative“-Liste alle IGM-Mitglieder, Resolutionen und Protestschreiben an die IG Metall, Schwanthaler Straße 64, 8000 München 2, zu richten.
Blatt. Stadtzeitung für München 124 vom 7. Juli 1978, 6.