Materialien 1978
Von Kontrolleuren, Insekten und anderen Ungeheuern
In einem Land, in dem eine Sendung wie „Aktenzeichen XY – ungelöst“ der Familienunterhaltung dient und höchste Einschaltquoten aufweisen kann, ist es natürlich leicht, Briefträger, Tankwar-
te, Makler und Autoverleiher als Spitzel und Denunzianten anzuheuern. In einem Land, in dem die Polizisten nicht für die Bürger da sind, sondern die Bürger für die Polizisten, steckt in jedem Menschen ein verkappter Polizist. Und wehe, wenn man an diese latenten Polizeiinstinkte appel-
liert, wenn man einem Beamten oder Angestellten Kontrollfunktionen überlässt, dann werden sie zu kleinen Ungeheuern, dann fallen sie wie bösartige, hässliche Insekten über andere her.
Ein typisches Produkt dieser deutschen Polizeimentalität sind – neben Ladenhausdetektiven – die Kontrolleure der Verkehrsbetriebe, die MVV- Fahnder, denen man bereits an ihren verkniffenen Gesichtern, an ihren schmalen zusammengepressten Lippen, an ihren stechenden Augen die wi-
derliche Funktion ihrer Arbeit ablesen kann.
Zwei dieser Exemplare waren auch am 10. April diesen Jahres unterwegs, sie stiegen gegen 18 Uhr an der Mühldorfer Straße in einen Bus der Linie 44 ein und stürzten sich in bekannter Fahndungs-
manier auf die ahnungslosen Passagiere.
Schon beim ersten Fahrgast konnten sie einen Erfolg verzeichnen.
Ein Rentner, Besitzer jener nicht gerade sozialen Seniorenkarte, die bekannterweise nur bis 16 Uhr gültig ist, hatte es gewagt, sich etwas zu verspäten, ohne dass er deswegen etwa einem anderen den Platz weggenommen hätte, denn der Bus war nur halbvoll.
Trotzdem sah sich die bebrillte Kontrolleuse veranlasst, ihn lautstark vor allen Leuten darauf auf-
merksam zu machen, dass er nach 16 Uhr zu Hause bleiben oder aber eine normale Fahrkarte be-
zahlen müsse.
Der so in aller Öffentlichkeit als minderbemittelter Rentner abgestempelte Mann setzte sich zur Wehr und verbat sich diese rüde und vor allem lautstarke Diffamierung.
Zur gleichen Zeit hatte auch die zweite Kontrolleuse ein Opfer gefunden: eine Hausfrau, die auf ihrem nachmittäglichen Einkaufsbummel die für eine Fahrkarte gültige Zeit überschritten hatte und nun zur Kasse gebeten werden sollte.
Auch hier steigerte sich die verkappte Polizeimentalität zur einer Lautstärke, die Macht demon-
strieren sollte, während die ertappte Hausfrau, zuerst beschämt, dann aber sich zum Wider-
spruch aufraffend, energisch dagegen protestierte.
Die restlichen Fahrgäste im Bus horchten auf und verfolgten die Tiraden der Kontrolleusen zuerst neugierig, dann missbilligend um schließlich offen Widerspruch zu erheben. Erst einer, dann mehrere, und harte Worte flogen den Agentinnen des MVV um die Ohren: „Unverschämtheit!“, „Verdammte Schnüffelei!“, „Wenn ihr die Preise immer höher setzt, braucht ihr euch nicht zu wundern, wenn immer mehr schwarz fahren!“
Die Gesichter der beiden Kontrolleusen liefen erst rot an, schlugen dann aber nach einigen Se-
kunden ins Blasse um und zeigten deutliche Spuren von Überraschung und Verwirrung.
So etwas hatten sie anscheinend noch nie erlebt.
Da vertrauten sie nun auf die jahrhunderte alte Tradition des braven und autoritätshörigen Un-
tertanen, der jedes Wort von OBEN als göttliches Gebot hinnahm und nun plötzlich diese fast schon an Rebellion grenzende Aufsässigkeit.
Mit einem Schlag war alle Autorität verweht, zerbrach der Nimbus der Macht ausstrahlenden Obrigkeit, die bei den standen da, als hätte man ihnen soeben ihre fristlose Kündigung mitgeteilt. Zum Glück für sie hielt der Bus in diesem Augenblick an der Haltestelle Leuchtenbergunterfüh-
rung, sie stürzten Hals über Kopf zur Tür hinaus und verschwanden, ohne auch nur noch einen einzigen Passagier kontrolliert zu haben.
Man wagt sich kaum vorzustellen, was geschehen könnte, wenn dieses Beispiel Schule machen würde, wenn immer mehr MVV-Teilnehmer einsehen würden, dass auch Kontrolleure nur Men-
schen sind und keine Vorgesetzten, keine höheren Wesen, die den MVV, oder besser gesagt den Staat, diese allgegenwärtige, widernatürliche Pestbeule, repräsentieren, als seien sie dessen Statthalter.
P.S.
Blatt. Stadtzeitung für München 119 vom21. April 1978, 5.