Materialien 1978

Der macht seinen Weg

Privilegien, Anpassung, Widerstand

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Aus der Schule raus, in der ich zuhause war, wenn auch gegen vieles revoltierend, hinein in die Universität. Ich bin in vier Jahren hier nicht heimisch geworden.

Immer gehe ich alleine, genieße die Freiheit und meine Unabhängigkeit. An einem Wintertag, während es draußen schneit, sitze ich in der Cafeteria des Germanistischen Instituts, neben mir Begrüßungen, Stimmen, Kommen und Gehen, und ich lese, wie um mein Leben, den letzten Gedichtband von Paul Celan, ein bis zwei Stunden, und die Welt um mich geht mich nichts an. Der Stolz des Einzelgängers, diese unwirkliche Attitude. Aber an diesem Tag lebe ich sie, bin in Celans Gedichten schwer und glücklich. Nach wenigen Semestern schon leide ich unter der Isolation, lasst mich doch mitlaufen, mitreden, mitlachen.

Mein Widerstand gegen den Sog der Anpassung, diese Donquichotterie für die Individualität und Gedankenfreiheit, und mein Scheitern, war das exemplarisch? Ganze Heere von Angepassten bevölkern unsere Universitäten, die politisch aktiven Gruppen sind Sprengel dagegen, auch wenn die Flugblätter, die Streitereien und teach-ins das Gegenteil suggerieren. Die graue amorphe Masse. Ich stelle mich außerhalb, doch wenn ich über mich nachdenke, finde ich mich mitten drin, Ich, diese Masse, die schweigende Mehrheit spricht.

Anpassung, woran eigentlich? Diesen Begriff muss ich mir beim Schreiben erst aktiv in Frage stellen. So selbstverständlich ist mir der Ekel vor ihm, so genau glaube ich zu wissen, was er bedeutet. Ich sammle Worte, die das Ziel von Anpassung bezeichnen; vielleicht gehören sie alle zum Allensbach-Demoskopie-Menschen, diesem Inbegriff von Normalität und Durchschnittlichkeit. So wie, nach Noelle-Neumann, „der Deutsche“ oder richtiger: „der deutsche Akademiker“ ist, so sollen alle werden. Devianzen oder gar Radikalität sind zu beseitigen und einzuebnen. Oder Anpassung ist, grundsätzlicher ausgedrückt, Vernichtung von Unwägbarkeiten: eine Existenz, die vollkommen ohne Fragen ist. Und da das Neue vornehmlich aus dem Kopf kommt, die subversive Potenz des Denkens, darf ich Sie um Ihren Kopf bitten. Sie werden nach der Exekution leben wie zuvor, ja besser, schmerzfrei, ohne Leidensdruck. Schauen Sie doch hin, hören Sie doch zu, die glücklichen Berichte vom angepassten Leben, nichts schöner als das Leben ohne Kopf.

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Schon auf der Schule die paradoxe Haltung, Einzelgänger und Mitläufer in einer Person zu sein. Bilderbuchabitur. Bei der Zeugnisverleihung trug ich eine kollektiv verfasste Abiturrede vor, deren letzter Satz den Grundtenor wiedergibt: „Den Bedingungen, die Schuld daran waren, dass das Positive Ausnahme bleiben musste, gilt unser sprachloser Zorn.“ Schon damals also beides, die Einordnung und der nur gedankliche und verbale Protest. Ich meine, das System der Zwänge unterlaufen zu können, indem ich die Anforderungen übererfülle, mir dadurch Narrenfreiheit sichere. Erst viel später merke ich, wie unvermeidlich eine nur für äußerlich gehaltene Anpassung eine Anpassung auch des Denkens zu werden droht. Auf der Schule habe ich, gerade rechtzeitig, mit sechzehn, die globale Verweigerung aufgegeben, mich angepasst, wo es nötig war, mich interessiert, gelesen, gelernt. Erfolge stellten sich ein; und es wäre verlogen zu behaupten, dass diese Erfolge keinen Spaß gemacht hätten, dass nicht neue Lust geweckt worden wäre. Ich entwickelte und perfektionierte ein System, das mir half, ganze Lehrbuchpassagen auswendig zu lernen und in Schulaufgaben wiederzugeben. Die Noten gaben mir recht, belohnten mich dafür. Gewiss, auch Kritik. Aber nur die von vornherein vorgesehene, jederzeit integrierbare. Ist es wirklich nur ein Zufall, dass die beiden einzigen Linken, wie hilflos oder verbissen sie ihre Positionen auch immer vertraten, irgendwann abgehängt wurden, das Abitur nie erreichten?

An der Universität dann mein beflissenes, graues, pflichtbewusstes, nirgends engagiertes Studium der Geschichte. Die Belohnungen, nach schnellen acht Semestern, auch hier. Hätte ich auch nur in einem einzigen Seminar eine abweichende eigene Meinung und dadurch den Schein riskiert, all dies wäre nicht so problemlos gegangen. Aber: Erfolge, Belohungen – Versuchungen. Eine Assistentensteile bei den Althistorikern, um die ich mich, vom Erfolg meiner Promotion verführt, selber bemüht hatte, stand eine Woche zur Diskussion. Immer erschrockener erkannte ich, welche Konzessionen ich einzugehen bereit war, wie ich mein Leben ändern würde; ganz so, als gäbe es für einen 24jährigen nichts Erstrebenswerteres als einen festen Beruf, einen „Posten“ und die Aussicht auf eine ziemlich unweigerliche Karriere. Meine Erleichterung, als ich die Absage erfuhr, und zugleich mein Entsetzen, zum wievielten Mal, über meine Bereitschaft zur Anpassung.

Drastischer als das System der Belohnungen hat das der Sanktionen die Tendenz, die, welche anders sind, gleichzuschalten. Man braucht nicht das Paradebeispiel des Radikalenerlasses und der Berufsverbote zu bemühen. Es gibt subtilere Methoden. An meiner ehemaligen Schule hatte ich mich nach der Möglichkeit erkundigt, als nebenamtliche Lehrkraft Geschichtsunterricht zu erteilen. Der Studiendirektor, mit dem ich sprach, machte mir beste Hoffnungen: Ihre Personalien haben wir ja noch von früher, Herr Goetz. Aber man hatte nicht nur die Personalien, man hatte auch die Erinnerung an einen zeitweilig in mancher Hinsicht widerspenstigen und kritischen Schüler. Zwei Wochen später erhielt ich die Absage, es sei keine Stelle mehr frei. Den wahren Grund, den ich von einem befreundeten Lehrer erfuhr, man habe politische Bedenken geäußert, teilte man mir nicht mit, natürlich nicht.

Haben solche Erfahrungen irgendeinen Punkt, an dem sie das nur Private überschreiten und exemplarisch werden für ein Klima, für eine gesellschaftliche Tendenz? Die abstrakten Erkenntnisse von sozialen Gesetzmäßigkeiten, wie etwa von diesem System der Belohnungen und Sanktionen, sind spätestens dann mehr als Hirngespinste, wenn wir unsere eigene Wirklichkeit auf diese Abstrakta beziehen können.

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Und auf der anderen Seite, sind das nicht auch Anpassungsprozesse, gleichermaßen übel? Das passt doch exakt ins Bild: Die Einheitsfront einer politisch gleichgültigen Masse produziert eine Einheitsfront einer politisch radikalen Minderheit. Gleichschaltung auf beiden Seiten, Attentate auf die Vernunft, auf das selbständige Denken. Macht es einen Unterschied, von welchem Lager aus?

„Ich habe jetzt einen Standpunkt“, erklärt ein Freund triumphierend, den ich nach fast einem Jahr wiedertreffe. Nein, er ist nicht einer schlagenden Verbindung beigetreten, sondern nimmt an einer orthodoxen Marx-Schulung teil. Alles andere als ein politischer Mensch, ein Künstler-Genie, schreibend, malend, bildhauend, ein Entdeckungsleser von faszinierender Spannweite. Vor einem Jahr noch hatte er mir gestanden: das strebe er schon an, das luxuriöse Haus, den beruhigenden Besitz. Jetzt lacht er, wenn ich sage, aber Marcuse …, und meint, „das sind doch nur Mystiker“. Er hat einen Standpunkt, auch er hat die Fragen endlich beseitigt.

Eine Geburtstagsfeier, auch die Marx-Gruppe taucht auf, geschlossen, kommt später, geht früher, wer da dazu gehört, gehört zusammen. Erstmals sehe ich den Kopf der Gruppe, ein schwerer Mensch, die schwarzen Locken kommen unter dem schwarzen französischen Käppi hervor, das auch im Zimmer nicht abgenommen wird; ein etwas schütterer Bart, eine lange dicke Zigarre, mit der er sich einqualmt, die dann unter seinen Freunden und den Mädchen die Runde macht; man möchte sagen, ein Maskenfest – ein Spielzeugrevolutionär, so gewollt und übertrieben „echt“ tritt er auf. An diesem Abend mischt er sich in politische Gespräche nicht ein, zumindest nicht mit Argumenten. Gesprächsfetzen, die er, halb abgewendet, auffängt, werden lächelnd knapp kommentiert. „Revi“, sagt er nebenbei, und seine Freunde freuen sich mit ihm. Ich frage, was das heißt; Revisionist, erfahre ich. Doch sind Namen Antworten auf Fragen oder Gegenargumente? Ist solche Rede überhaupt noch eine politische Position, oder nur ein wohlig erlebter Anpassungs- und Gruppenprozess?

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Die Geschichte meiner Anpassung ist die Geschichte meiner Flucht aus der Universität und die gleichzeitige Erfüllung der im Rahmen des Studiums geforderten Leistungen. Aus einem Medizinstudium bin ich in ein Geschichtsstudium geflohen, von dort in die Literatur und ins Schreiben. Weder das Geschichts- noch das Medizinstudium habe ich aufgegeben; das ist die Feigheit, die Anpassung.

Studienzwänge. Das Medizinstudium, völlig verschult. Ich fliehe aus diesem Zwang in historische Vorlesungen; statt Biochemie die Geschichte der attischen Demokratie. Auf einem Motorrad der Weg vom Medizinerviertel in der Innenstadt zur Universität in Schwabing, und ich genieße diese Flucht. In   Medizin erscheine ich nur noch zu Kursen mit Anwesenheitskontrolle; das Motorrad knattert, wenn ich vor dem Physiologischen Institut parke, meine Arroganz, ihr Idioten, während ich absteige, habt ihr eine Ahnung, was ich wirklich mache.

Aber in Geschichte, die der geistige Ausgleich sein sollte, schon im Proseminar der Methodenstumpfsinn. Der Assistent, demgegenüber ich die Monatszeitschrift Merkur erwähne, ist ratlos, das ist doch keine Fachzeitschrift für Historiker? Nein. Na also, warum fragen Sie mich dann. Die Flucht geht weiter. In   die Literatur hinein, in die Bücher, ins Theater, ins Schreiben. Was mache ich eigentlich wirklich? Das einzige, was ich mache und ernst meine, ist Schreiben. Alles andere nebenher. Aber diese Flucht bleibt ohne Konsequenzen.

Aus dem Ausland kommend, im Auto linke Extremisten-freundliche Literatur. Wie ich die Bücher versteckt habe, zwischen literarischen Werken, politischen Harmlosigkeiten. Aber meine Angst, als ich früh um sechs im Morgengrauen auf den Grenzposten zufahre, und wie ich darüber erschrecke, dass man (wieder?) Angst haben kann, die falschen Bücher zu besitzen. Ein ganz ähnliches Gefühl mischt sich in meine Überlegungen, ob ich an den verbotenen Asta-Wahlen teilnehmen soll. Immerhin ein Stempel im Studienausweis. Soll ich diesen Aufruf unterschreiben, soll ich an jener Urabstimmung teilnehmen? Was riskiere ich dabei? Abwägungen, die mit meiner politischen Überzeugung nichts zu tun haben, die Folge von gezielten Einschüchterungsmaßnahmen sind. Doch was habe ich, der ich noch gar nichts habe, überhaupt zu verlieren? Die Möglichkeit einer Anstellung als Arzt. Meine Kleinlichkeit entsetzt mich, aber auch das Klima der Unsicherheit, das eine solche Haltung als vernünftig erscheinen lässt.

Und dann habe ich, mehr als einmal, drei Monate lang, mein eigenes Petrus- Erlebnis: halte den Mund, wo ich mich bekennen müsste. Die Arbeit als wissenschaftliche Hilfskraft am althistorischen Institut; selbstverständlich vorausgesetzt werden: ein althistorisches Grundwissen, über das ich nicht verfüge; und eine konservative politische Überzeugung, die ich nicht habe. Einer meiner Kollegen ist in einer schlagenden Studentenverbindung aktives Mitglied. Linke Flugblätter werden hier nicht diskutiert; was „wir“ davon zu halten haben, in dem kleinen Karten- und Kopierraum, der unser Arbeitszimmer ist, wird immer sehr schnell klar. Und ich widerspreche nicht.

Die Mehrzahl der Studenten, so scheint mir, befindet sich in der sicheren Grauzone politischer Positionslosigkeit und belächelt achselzuckend die täglichen Stöße Flugblattpapier auf den Mensatischen. Solcherart einstellungslos gerät man freilich auch mit nichts mehr in Konflikt; selbst widersprüchlichste Ansichten kann man, ohne sich selbst zu verleugnen, adoptieren, wenn das nur opportun erscheint. So weit bin ich noch nicht. Bin ich auf dem Weg dorthin?

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Zu einer Zeit, als in der Bundesrepublik die „Sympathisantenhatz“ in vollem Gange ist – nach den toten Terroristen in Stammheim und nach dem toten Schleyer , verfolge ich, informationsgierig, die linke französische Presse. Die fremde Sprache erleichtert mir, paradoxerweise, den Zugang zu den Inhalten eines revolutionären Vokabulars, das mir seit meinen Oberschultagen in seiner Etiketten und Schablonenhaftigkeit als denkfeindlich erschienen und darum zuwider war. Plötzlich durchstoße ich jetzt diesen Ekel, weil es nicht mehr um die bloße Äußerlichkeit von Benennungen geht.

Immer ungläubiger, immer konsternierter stehe ich vor den Abgründen (an Information), die sich zwischen dem französischen und deutschen Rundfunk, zwischen den Zeitungen von zu Hause und denen in Paris auftun. Es darf doch nicht wahr sein, was ich da höre, wenn ich abends in meiner Dachmansarde auf Mittelwelle den Bayerischen Rundfunk einstelle. Die Stimme des Nachrichtensprechers ist Triumph und Propaganda, wenn sie von der angelaufenen öffentlichen Fahndung berichtet. Oder ist es gar nicht die Stimme, sind es nur die Worte, der Sinn der Worte selbst, was mir Schrecken einjagt? „Die gesamte Bevölkerung beteiligt sich mit zahlreichen Hinweisen an der Großfahndung nach den Mördern von Hanns Martin Schleyer.“ Für zwei Tage gibt es keine Nachrichtensendung, die nicht so oder ähnlich begänne, nicht beim Deutschlandfunk, nicht beim Südwestfunk, bei keinem Sender, den ich erreiche. Beteiligt sich wirklich die „gesamte Bevölkerung“, und wer hat das recherchiert und wie? Ist das Information oder Propaganda, oder ist das etwa gar keine Alternative mehr, weil beides eins geworden ist? Eduard Zimmermann auf allen Kanälen und nichts mehr sonst?

Selbst die liberale Zeit stimmt ein in diese kriegerische Hysterie: ein politisches und öffentliches Klima, das einem den Atem nimmt. Wo bleiben jetzt die besonnenen Köpfe? Warum müssen sich alle Linken, alle Intellektuellen vom Terrorismus distanzieren, den sie nie gutgeheißen haben, warum einen neuen Gesinnungs-Ariernachweis leisten? Es dauert lange, bis die Sorge, die mich in diesen Tagen quält, auch öffentlich geäußert werden kann, geäußert wird: die Banalität, dass unser Staat durch die Reaktion von Rechts viel mehr in Gefahr ist als durch die Terroristen selbst, als durch tote Bubacks, Pontos, Schleyers.

Ein Brief, von Paris nach München, an eine ehemalige Lehrerin, die politisches Bewusstsein in mir gefördert hatte, als ich sechzehn war; ein Brief, voll von der dargestellten Angst, den Befürchtungen, und darin implizit die Frage, wie wir Jugendlichen diesem Staat begegnen sollen, der uns in seiner wachsenden Anti-Liberalität zurückstößt. Nach einigen Wochen, eine ausführliche Antwort; eine enttäuschende Antwort. Offenbar hatte mein Brief von meinem Entsetzen nichts mitgeteilt, sonst hätte die Antwort mehr sein müssen als der biedere Appell, die konkrete politische Arbeit fortzusetzen, zu intensivieren, in der SPD, nicht in der CSU. Als ob es nicht gerade diese Alternativlosigkeit wäre, die uns an systemimmanenten Lösungen radikal zweifeln lässt. Welche, wenn nicht solche Erfahrungen, solche unzureichenden Antworten, solch exemplarisches Unverständnis treiben die jungen Leute, einige wenigstens, stückweise in die politische Kriminalität, oder zumindest in ein handfestes Sympathisantentum? Denn der politische Wahnsinn des Terrors verliert angesichts des staatlichen Wahnsinns der Reaktion viel von seinem scheußlichen Gesicht.

Mein „Deutschland im Herbst“, von Frankreich aus gesehen, ist ein bizarres, mich ängstigendes Bild, ein Lehrstück zu Massenhysterie und Volkszorn, Selbstzensur und Denkverbot. Wie oft habe ich, nachdem ich Monate später von Frankreich zurückgekommen war, die selbst hysterische und rundum psychopathologisch erscheinende filmische Eigendarstellung des Rainer Werner Fassbinder verteidigt: Diese ohnehin kaputte Persönlichkeit leidet mit jeder Faser ihres Körpers an dem politischen Klima, wird von ihm vollends zerstört. Ich sah darin die Ansätze meiner eigenen Betroffenheit: ins Extrem verlängert.

Was teilt sich noch mit, wenn ich jetzt, fast ein Jahr danach, diese Fragen notiere, die mich aufrührten, wie kein politisches Ereignis je zuvor? Vom Kopf, der bislang dafür zuständig war, ist mir die Politik mit einem Schlag ins Herz gerutscht: das bin ich selbst, der da betroffen ist, meine eigene Freiheit, zu denken, mich zu äußern, zu handeln, die bedroht ist, mein eigenes Recht auf Information; das sind keine Abstrakta mehr, ich bin Bürger dieses Staates, der mir Angst macht, fast nur noch Angst macht in seinem Gleichschritt von panischem Volksempfinden und regierendem Machtapparat.

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Polizeistaat, oder unterwegs dorthin? Die Beobachtung der höchst restriktiven Nachrichtenpolitik in Deutschland und einer nahezu einstimmigen Stimmungsmache, wie viele Strauße und Dreggers hatte die Bundesrepublik schlagartig – das war das eine. Das andere war die reale Situation in Paris, wo man inzwischen Klaus Croissant verhaftet hatte. Die Erwägung der von der Bundesrepublik geforderten Auslieferung löste nun einen Sturm des Engagements, des Widerstandes, des Protestes aus. Während man in Deutschland nicht müde wurde, in ganzseitigen Artikeln die Persönlichkeit des Rechtsanwaltes auf einen eitlen und selbstgefälligen Scharlatan zu reduzieren, diskutierte man hier, und keineswegs nur in linken Kreisen, die Rechtmäßigkeit der geplanten Auslieferung. Darf das Recht auf Asyl wirklich verweigert werden? Die Petitionen, Aufrufe, Informations- und Diskussionsveranstaltungen; wovon ich erfuhr, dort ging ich hin. Abends patrouillierten aggressive Rollkommandos der Demonstrantenpolizei CRS durch die Metro-Bahnhöfe, ein Klima der öffentlichen Konfrontation und gegenseitigen Provokation entstand.

Demonstrationen, die verboten wurden. Einmal, als ich trotzdem hinging, wurde ich beim Verlassen des Metro-Bahnhofs Republique festgenommen. Meine Papiere waren in Ordnung, trotzdem, so sagte man mir, müssten meine Personalien überprüft werden. Und so saß ich dann, mit vielen anderen Jugendlichen zusammen, in einem vergitterten Bus der Polizei, zunächst zwei Stunden an der Place de la Republique, der Wagen füllte sich immer mehr, dann fuhren wir los, mit Blaulicht und Sirenen, drei dieser Busse, von einem Motorradfahrer der Polizei eskortiert. Ich bemühe mich. die Orientierung zu behalten, durch die abendlichen Lichterstraßen von Paris, doch das gelang nicht, und mein Zorn über diese Festnahme wuchs, die tatsächliche Freiheitsberaubung, die mir durch nichts gerechtfertigt erschien. Eine halbe Nacht brachte ich in den Arrestzellen des Bois de Vincennes zu, konnte niemanden benachrichtigen, wartete ohne zu wissen, wie lange das dauern würde, wurde von den Wachbeamten, wie alle anderen, geschubst, gestoßen, angepöbelt, wenn ich, auf die Toilette geführt, die offene Kabine nicht schnell genug wieder verließ. Die erkennungsdienstliche Behandlung, das Photo, die Fragen, all das, der eigentliche Anlass zu dieser Festnahme also, dauerte nur wenige Minuten. Sehr spät abends ließ man mich frei, am Rand von Paris; wie ich heimkommen sollte, war mein eigenes Problem. Um mehr als nur eine Erfahrung reicher, voll ohnmächtiger Wut, Verzweiflung.

Immer verständlicher wurde mir, dass sogar und gerade Rechtsanwälte, tagtäglich mit dem Polizeiapparat und den Justizvollzugsorganen befasst, selbst in den kriminellen Untergrund abtauchen. Wenn man schon nachweislich Unschuldige so behandelt, wie es mir geschah, welche ständigen subtilen Rechtsbrüche, Persönlichkeitsverletzungen muss ein verurteilter Verbrecher wohl über sich ergehen lassen, erst recht ein Terrorist, der den geballten Volkszorn gegen sich hat? Wie soll man da hoffen, mit rechtsstaatlichen Mitteln sein eigenes Recht bekommen zu können?

Politische Hoffnung. Sie wuchs, auch wieder ganz privat vermittelt, trotzdem in diesen Pariser Wochen; daneben eine radikalere Bereitschaft zur politischen Tat, nicht nur im Kopf, abwägend im Gespräch, sondern auf der Straße. Die Solidaritätsgefühle, vermutlich ein alter Hut für die Aktiven von 1968, waren neu für mich, das gemeinsame panische Davonlaufen vor dem beißenden Nebel der Tränengasbomben, vor den Knüppeln der Polizei. So hingeschrieben sind das nur wieder die Worte, die ich längst vorher kannte, aus den zahllosen Erfahrungsberichten, wie oft man das liest. Und doch sind sie für mich jetzt voll von Erlebnis und von erschreckender Wahrheit. Ich scheue das Pathos nicht: Wie ich wünschte, gerade wenn ich diesen Pariser Herbst erinnere, dass meine Worte mehr sein könnten als nur immer wieder Worte.

Wie ein höchst merkwürdiger Epilog zu den damaligen Ereignissen kommt mir eine Begebenheit dieser Tage auf dem Münchner Hauptbahnhof vor. Ich wollte einen aus Paris ankommenden Bekannten abholen, halb elf Uhr abends war es, und ich schlenderte vor dem Eintreffen des Zugs noch etwas auf dem Bahnsteig auf und ab. Der raue Ton, in dem drei Bahnpolizeibeamte die Personalienkontrolle bei drei Ausländern vornahmen, erregte mein Interesse, ich blieb stehen und schaute zu. Das missfiel den Polizisten, ich sollte mich, nach einem kurzen Wortwechsel, selbst ausweisen, was ich nicht konnte, also nahm man mich fest. Ein normaler Vorgang. Doch am Weg zur Wache, in einem von Zeugen unbeobachteten Moment, wurde ich nahezu niedergeschlagen. Meine zu langsame Gehweise hatte Aggressionen in den Beamten freigesetzt, die ich nicht vorhersehen konnte, die mir auch heute noch kaum glaublich erscheinen, unverdeckt kriminell. Drei Männer stürzten sich da auf mich, stießen mich um, verdrehten mir beide Arme, rissen an den Haaren meinen Kopf in den Nacken und führten mich, der ich in dieser Haltung kaum gehen konnte, tief gebückt, die verbleibenden zwanzig Meter zur Wache.

Sind das keine politischen Erfahrungen? Welche Chance hat die von mir erstattete Anzeige gegen diese Beamten? Der Rechtsstaat auf dem Weg nach rechts. Wo finden wir in ihm noch einen Ort, oder stellt er sich, immer mehr, außerhalb von uns? Wie dem auch sei: Solche Erlebnisse bringen einen auf den Weg.

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Tendenzen gegen die Anpassung, wider ein Leben ohne Kopf. Wenn ich sie hier aufzähle, wenn ich das durchlese, erschreckt mich das Missverständnis, das so nahe liegt, sich fast aufdrängt. Die Pseudoposition eines kritischen Rationalismus, der von überall herkommt und nirgendwo steht, scheint hier die notwendige Konsequenz zu sein, jene aalglatte Liberalität der Einerseits-Andererseits-Propheten, ohne eigene Interessen, ohne eigene Position. Doch es ist eben nur eine scheinbar notwendige Konsequenz. Nichts hindert mich, die Überzeugung, die ich heute habe, mit aller Emphase zu vertreten und mich doch offen zu halten für die Erschütterungen dieser Überzeugung, denen ich schon morgen begegnen könnte. Weg von der Statik der eigenen Positionen, weg auch von der höheren Warte, die durch die Einbeziehung aller Fürs und Widers scheinbar sich ergibt. Auf dem Weg sein, mit klarem Bewusstsein davon, wo man herkommt, wohin man will, die eigenen Befangenheiten und Beschränkungen kennen; und doch mit aller Kraft, aller Verstandeskraft, heute dagegen sein; und ohne Feigheit, morgen, wenn es das Denken unausweichbar macht, vielleicht dafür sein.

Rainald Maria Goetz1


Kursbuch 54, Berlin 1978, 31 ff.

1 Der am 24. Mai 1954 in München geborene Rainald Goetz studierte Geschichte, Theaterwissenschaft und Medizin in München und Paris. In seinen Schriften erwähnt Goetz zudem ein abgebrochenes Studium der Soziologie in Berlin. Die Studiengänge Geschichte und Medizin schloss er jeweils mit einer Promotion ab: Zunächst, nach einem Aufenthalt an der Sorbonne im Herbst 1977, den Studiengang Geschichte mit einer althistorischen Dissertation über Freunde und Feinde des Kaisers Domitian, die durch den Althistoriker Hermann Bengtson (1909-1989) angeregt und betreut wurde. In seinen Schriften nimmt Goetz immer wieder in abwertender Form auf die Alte Geschichte Bezug, die Entstehung seiner Dissertation schildert er in seinem Roman Kontrolliert, auch eine mögliche Karriere durch eine Assistentenstelle bei den Althistorikern erwähnt Goetz in seinen Schriften. Ende 1982 folgte die Promotion zum Dr. med. mit einer Arbeit über ein Thema der Jugendpsychiatrie. Neben der ersten Dissertation, die trotz des „trockenen“ und vor allem epigraphisch bearbeiteten Themas bereits literarische Ambitionen erkennen lässt, zeichnet sich auch die medizinische Doktorarbeit durch eine kaum verkennbare literarische Stilisierung aus. Berühmt wurde Goetz 1983 durch einen Aufsehen erregenden Auftritt beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt: Vor laufenden Fernsehkameras ritzte er sich während einer Lesung mit einer Rasierklinge die Stirn auf, ließ das Blut über seine Hände und sein Manuskript laufen und beendete die Lesung schließlich blutüberströmt. Die meisten seiner Werke sind im Suhrkamp Verlag erschienen.

Überraschung

Jahr: 1978
Bereich: Militanz

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