Materialien 1978

Auf nach Tunix

„Wer jetzt noch eine energische Anti-Terror-Gesetzgebung beschimpft oder verhindert, macht sich schuldig. Wer jetzt noch die Motive der Terroristen mit Nachsicht oder Sympathie erforscht, hat seine Ehre verloren. Wer jetzt noch nicht bereit ist, Unbequemlichkeiten seines Freiheitsspielraumes freiwillig in Kauf zu nehmen, verliert seinen moralischen Anspruch. Wer jetzt noch den Staat verhöhnt, vergeht sich an der Demokratie.“
BILD, Berlin, 18.10.1977

Komm mit, sprach der Hahn, etwas besseres als den Tod werden wir überall finden.

Wir, die wir schon eine Weile auf unseren gepackten Koffern sitzen, schlagen vor, dass alle sich aus diesem Deutschland verpfeifen.

Uns langt’s jetzt hier!

Der Winter hier ist uns zu trist, der Frühling zu verseucht und im Sommer ersticken wir hier. Uns stinkt schon lange der Mief aus den Amtsstuben, den Reaktoren und Fabriken, von den Stadtautobahnen. Die Maulkörbe schmecken uns nicht mehr und auch nicht mehr die plastikverschnürte Wurst. Das Bier ist uns zu schal und auch die spießige Moral. Wir woll’n nicht mehr immer dieselbe Arbeit tun, immer die gleichen Gesichter zieh’n. Sie haben uns genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die Wohnung, die Pässe, die Fresse poliert. Wir lassen uns nicht mehr einmachen und kleinmachen und gleichmachen.

Wir segeln alle ab!

Zum Strand von Tunix. Da bauen wir unsere eigenen Hütten, wir schnitzen uns Gewehre und Sandalen. Und die kämpferische Genossin von der BI baut Sonnenkollektoren für die Kinder, damit sie in die Glotze schauen können, wo der Maulwurf Mikesch den Frühschoppen moderiert.

Unseren Geigen, Gitarren und Celli ziehen wir andere Saiten auf und spielen „Kein schöner Land als dieser Strand“ mit Tommy und den Stones. Wer nicht singen kann, sucht Pilze. Der angestrengte Typ vom Anwaltskollektiv räuchert über’m Feuer seiner alten Juraschinken die viel saftigeren Schweine von gestern. Stets ein Gewinn wird jeder Einsatz der Genossen Kommunisten in der Arbeiter-Klassenlotterie. An schwülen Nachmittagen sitzen schwitzend schwatzende Schwule in kühlen Schaukelstühlen. Gemüsesuppe kocht eine ehemalige Männergruppe; die Basisgruppen graben – nach der Basis – den Garten um. Zum Mittagessen jagen einige Genossen Professoren kapitale Hirsche, und Heinrich Böll kocht Tee und diskutiert mit Wallraff über die neue Sinnlichkeit. Sein Eurolied singt Onkel Biermann zum Schlafengehen den Kindern vor.

Dann steht hier alles leer und still Da soll dich die Polizei im Filz von Bubble-Gum und Langeweile ersticken, soll der Verfassungsschutz sein Grundgesetz mal endlich vor sich selber schützen.

Mit Mob und Küchenschürze huscht der Werkschutz durch die Hallen, die Bänder vor dem zersetzenden Zugriff des Staubs zu retten. Die Kaufhäuser können sich ihren Schund auch nur noch gegenseitig verkaufen. Und vor den schluchzenden Aufsichtsräten tanzt einsam und allein der Personalchef den sterbenden Schwan. Die Mietskasernen sind selbst den Tauben viel zu kalt, sie bewohnen die leerstehenden Kindergärten, Schulen und Universitäten.

Wir sind alle weg und sehen, dass wir da waren und sehen, dass wir viele waren, denen es gestunken hat, die genug hatten. Wir sind alle weggesegelt, weil wir uns ohnmächtig fühlten und alllein und sehen, dass wir gar nicht allein waren.

Und das wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht jetzt schon – oder immer noch? – da sind, ob wir nicht jetzt schon viele sind, die genug haben von allem, von den öden Asphalt-Beton-Wüsten der Neubauviertel, von der waffenstrotzenden Präsenz und Gewalt des Polizeiapparates und davon, dass sie unsere Träume zerstören mit Peter Styvesant und Springers Bild und ihren immer gleichen Fernsehshows, von der Coca-Cola-Karajan-Kultur.

Genug davon, dass sie uns vorschreiben wollen, wie und wo wir uns zu organisieren haben und wer uns sympathisch zu sein hat, genug von Toten in den Gefängnissen und den Fabriken, auf den Straßen, genug von Kontaktsperren und dem Ausschluss unserer Verteidiger und davon, dass unsere Kinder seelisch verhungern in reglementierten Kindergärten und Schulen, zwischen eingezäunten Rasenflächen.

Das wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht jetzt schon so viele sind, die Widerstand leisten in so vielen Bereichen, mit so unterschiedlichen Ansätzen, in so vielfältigen Formen.

Kommen wir also zusammen, auf diesem Widerstandskongress – erzählen wir, erfahren wir voneinander, bringen wir mal diese Widerstandsbewegung zum Ausdruck – und hauen wir dann zusammen ab, segeln wir alle zum Strand von Tunix, der weit weg liegen kann, oder vielleicht auch unter dem Pflaster von diesem Land.

Am 27./28./29. Januar 1978 wird deshalb in Westberlin ein Treffen aller Freaks, Freunde und Genossen, ein Treffen all derer stattfinden, denen es stinkt „in diesem unseren Lande“.

Wir haben jahrelang geglaubt, dass mit Aktionen unter dem Motto „Weg mit …“ und „Nieder mit …“ etwas zu verändern sei, wenn man es nur geschickt genug anstellt. Unsere Phantasie wurde darüber verstümmelt eingeschläfert oder verschüttet. Statt uns wie immer auf die traditionelle Ebene des Widerstandes einzulassen, wollen wir diesmal über neue Formen des Widerstandes nicht nur miteinander diskutieren, sondern sie schon in der Art des Ablaufs unseres Treffens praktizieren. Wir wollen neue Ideen für einen neuen Kampf entwickeln, den wir selbst bestimmen und uns nicht von den Technikern das „Modell Deutschland“ aufzwingen lassen. Wir wollen wegkommen von der Hilflosigkeit des ewigen Reagierens zu neuen Formen des Agierens. Wir wollen auch keine wochenlangen Aktionseinheitsverhandlungen führen über sinnige und unsinnige Parolen. Wir wollen keinen Minimalkonsens, der so platt und abstrakt wie richtig ist. Wir wollen das MAXIMALE für JEDEN! Jeder kann seine eigenen Parolen und Gedanken formulieren, malen singen und wir können trotzdem – oder gerade deswegen – gemeinsam kämpfen. WIR WOLLEN ALLES UND WOLLEN ES JETZT!!!

Wir werden ein 3-Tage-Fest feiern, und wir werden bereden, wie wir unsere Ausreise aus dem „Modell Deutschland“ organisieren.

Wir werden bereden, wo Tunix liegt, und wie wir dorthin kommen.
oder:
Wir werden bereden, wie wir das „Modell Deutschland“ zerstören und durch TUNIX ersetzen.

Die Themen für das GROSSE PALAVER liegen längst auf der Straße und auf der Hand. In Berlin wird das Zusammentreffen all derer organisiert, die schon die Unterwanderstiefel geschnürt haben.

Es werden also kommen:

Theatergruppen: Karl Napp Theater, Zarathustra, Los Tros Tornados, etc.

Musikgruppen: Straßenmusiker, MEK, Teller Bunte Knete, Embryo, div. Rockbands etc.

Film- und Videofreaks: von den Unis, aus den Stadtteilen, der DFFA etc.

Feuerschlucker und Zauberer, Köche und Künstler.

Es wird Diskussionsveranstaltungen geben mit/von/zu:

 Stadtteilgruppen und Bürgerinitiativen
 Treffen alternativer Zeitungsmacher
 Braucht die radikale Linke eine eigene Tageszeitung? (Diskussion mit den Vorbereitungsgruppen)
 Mescalero, Buback und die Presse (Diskussion mit den Nachrufeunterzeichnern)
 nationales Treffen von Knastgruppen
 Knast und Vernichtung /Stammheim
 Psychiatrie und Antipsychiatrie
 Alternative Bildungsmodelle
 Forum der Unifreaks vor/nach/im Streik
 Repression und Zensur im Medienbereich
 Atomstaat B R D
 Verleihung der GOLDENEN FAUST
 Diskussion mit ausländischen Genossen (Focault/Deleuze/Guattari/Radio Alice etc.)
 und über all da, was euch noch einfällt, und was ihr vorbereitet.
 usw., usw., usw.

Der Backstein sprach zum Haus
ich halt dich nicht mehr aus!
Da sprach das Haus zum Stein:
dann fall ich eben ein!

Macht also zu!!! Die französischen und italienischen Freunde haben ihre Bündel schon gepackt und hocken in den Startlöchern. Wir haben Schlafplätze und Unterkünfte. Räume für die Veranstaltungen vom kleinen Gruppentreffen bis zur riesigen Freß-Tanz-Sauf-Kiff-Musik-Fete organisiert.

Bringen wir den Sumpf zum Überschwappen!

Koordinationsausschuss TUNIX1
c/o MAULWURF BUCHVERTRIEB
Waldemarstraße 24
1000 Berlin 36
Tel.: 030/6149858
NUR werktags 16 -18 Uhr


Blatt. Stadtzeitung für München 112 vom 13. Januar 1978, 14 f.

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1 Der unsignierte Text stammt von Stefan König.

Überraschung

Jahr: 1978
Bereich: Militanz

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