Materialien 1978

Der Fall Hans-Sachs-Straße 10

Die Hans-Sachs-Straße verbindet die Müllerstraße mit der Westermühlstraße in der lsarvorstadt. Sie ist eine der wenigen vom Krieg nicht zerstörten Straßen, deren Gebäude um die Jahrhundert-
wende errichtet wurden, Erker und kunstvolle Außenreliefs tragen und innen mit Jugendstilstuck ausgestattet sind. Sie liegt in sogenannter einfacher Wohngegend, aber lebt durch viele kleine Ge-
schäfte wie Teestube, Wolladen, Kleiderladen und ist bevölkert von jungen Leuten, die in Wohn-
gemeinschaften zusammengefunden haben und mit den alten Menschen besten Kontakt pflegen.

Die Mieten bewegen sich zwischen 300 bis 600 Mark für eine 120 qm große 5-Zimmer-Wohnung. Eine krasse Ausnahme macht das Haus Hans-Sachs-Straße 10. Der Eigentümer dieses total ver-
wahrlosten Hauses, das früher einmal ein stilvolles Bürgerhaus war, heißt Leo Matuschowitz. Das Haus ist vierstöckig und Herr Matuschowitz vermietet seine Wohnungen für 850 Mark an Vierer-
wohngemeinschaften.

Das Wohnungsamt der Stadt München hat 1976 gegen ihn eine Geldbuße von 2.000 Mark wegen Mietpreisüberhöhung gemäß § 5 Wirtschaftsstrafgesetz verhängt. Auf seinen Einspruch ist er 1977 von dem vermieterfreundlichen Amtsrichter Beck freigesprochen worden. Der Sachverständige der Stadt München, Riemann, hat eine Miete von höchstens 470 Mark für zulässig erachtet. Doch Richter Beck folgte dem Sachverständigen des RDM, der 850 Mark für erlaubt hielt. Dieser unfähi-
ge Richter, der selbst aussieht wie ein Hausbesitzer, schreibt in seinem Urteil, die Mieter sollten besser keine Wohngemeinschaften gründen, sondern Einzelzimmer oder kleine Wohnungen su-
chen. Sein Urteil ist politisch. Es erklärt nicht nur den Mietwucher für legal, sondern verletzt die Grundrechte der WG-Mieter auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit.

Nach Revision der Staatsanwaltschaft hat das Bayrische Oberste Landesgericht das abstruse Urteil des Amtsrichters Beck im Januar 1978 aufgehoben, und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Amtsrichter zurückverwiesen. Jetzt warten die WGs der Hans-Sachs-Straße 10 auf die Bestrafung des Vermieters und auf Rückerstattung ihrer zu viel bezahlten Miete, die sich inzwischen auf 5.000 Mark beläuft, wenn man einen angemessenen Mietpreis von 470 Mark pro Wohnung zugrunde legt.

Der Fall Hans-Sachs-Straße 10 hat exemplarische Bedeutung für das gesamte Stadtgebiet Mün-
chens. Er zeigt das von der Justiz sanktionierte Ausbeutungsverhältnis Hauseigentümer/Mieter in seiner extremsten Form. Wuchermiete und totale Verwahrlosung des Hauses sind 2 Seiten dersel-
ben spätkapitalistischen Medaille.

Früher war das Haus an Gastarbeiter vermietet. Heute sind 2 Nachtlokale für Lesben und Homos im Erdgeschoss, deren Musik die Mieter zwingt, Ohropax in die Ohren zu stopfen. Die Haustür ist kaputt, ohne Schloss, die Klingelanlage defekt, die Briefkästen aufgebogen, das Treppenhaus ab-
genutzt und Scheiben sind eingeschlagen, der Hof steht voller Gerümpel. Penner und Betrunkene übernachten und scheißen im Keller, prügeln sich, laufen blutüberströmt nachts durchs Haus, schellen und bitten um Hilfe. Ein Toter lag im Keller.

Das Haus Nr. 10 ist in der Hans-Sach-Straße inzwischen berüchtigt als Räuberhöhle, als Haus der Kratler und Terroristen, der Kommunen und Gangster, der verkommenen Schlawiner, die dort haufenweise in konspirativen Wohnungen sitzen und das Haus ruinieren. Die Rentnerinnen und alten Kleinbürgerinnen der oberen Stockwerke der Straße blicken hinter ihren weißgewaschenen Gardinen mit Abscheu auf dieses Haus, das früher ein ehrenwertes Haus war und heute noch den alten Stil ahnen lässt, wenn man es betritt.

Die Schuld am Zustand des Hauses wird natürlich den Mietern in die Schuhe geschoben, obwohl allein der Eigentümer Leo Matuschowitz, ein großer Hausbesitzer und Ausbeuter, für den skanda-
lösen Zustand des Hauses verantwortlich ist. Hoffentlich wird er von einem kompetenteren Amts-
richter wegen Mietpreisüberhöhung und zur Rückerstattung der jahrelang überzahlten Miete ver-
urteilt.

Sollten sich in München vergleichbare Fälle ergeben haben, so stehen die Mieter des Hauses Hans-Sachs-Straße 10 gerne mit Rat und Tat bereit, um Hausbesitzern die Lust am Wucher zu verleiden.

Leitwolf


Blatt. Stadtzeitung für München 116 vom 10. März 1978, 14.

Überraschung

Jahr: 1978
Bereich: Stadtviertel

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