Materialien 1979

sex & drugs & Rock'n Roll

„… und drückte seinen Unterkörper an das Gesäß des Knaben, dabei rieb er über der Unterhose etwa zehn Minuten an dem Geschlechtsteil des Knaben … Er sagte auch zu Uwe und Garry, sie sollten Ihre Unterhosen am Geschlechtsteil etwa 20 auf 15 cm ausschneiden. Es wäre sexy, wenn man ihre Geschlechtsteile sehen würde … Ferner gestattete der Angeschuldigte den beiden Buben, zwei Hefte mit den Titeln „Super Porno“ und „Streitzeitschrift Pornographie“ zu betrachten, in denen Geschlechtsteile sowie Geschlechtsverkehr in Großaufnahme abgebildet sind. Dabei sagte er zu ihnen: So etwas können wir doch auch einmal machen, Arschficken wäre schön … Dem Angeschuldigten war das Alter der beiden Kinder bekannt.“
Soweit Auszüge aus der Anklageschrift.

„Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe belegt.“
Soweit der Gesetzgeber.
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Am 9. Mai steht Peter Schult wegen „sexuellen Missbrauchs von Kindern“ wieder vor Gericht. Peter ist schwul, ist Päderast, Mitarbeiter im „Blatt“ und macht seit Jahren im Kollektiv Rote Hilfe München Knastarbeit. Vor kurzem erschien im Trikontverlag sein Buch „Besuche in Sackgassen“ (Aufzeichnungen eines homosexuellen Anarchisten), in dem er auch über seine Geschichte als Päderast schreibt. Die Kinder, die er laut Anklage sexuell missbraucht haben soll, heißen Uwe und Garry und waren damals 13. Sie waren von zuhause ausgerissen wie viele Kinder in ihrem Alter, weil sie es nicht mehr aushielten in den Heimen, in den Familien.

Die gesellschaftlichen Institutionen der heterosexuellen Rollenformung, die den Kindern Liebe, Schutz und Geborgenheit vor einer harten, rauen Welt geben sollen, sind für sie aufgebrochen. Nicht der Päderast hat sie aufgebrochen, sondern sie selbst. Sie begehren auf gegen schlagende Väter, Mütter, Heimleiter, gegen autoritäre Strukturen, gegen die Unterdrückung ihrer Bedürfnisse. Das reine, weiße, sexualitätslose, unmündige Kind in unseren Köpfen ist zerbrochen, es wird mündig und sagt „nein“ zu seiner gesellschaftlichen Situation. Es ist das namenlose Kind, dem in unserer rollenfixierten Gesellschaft noch keine Rolle zukommt, das noch zu Mann oder Frau geformt werden soll, das als Kind nicht anerkannt wird, dessen Sexualität verleugnet wird. In Frits Bernards Buch „Pädophilie“ schreibt ein vierzehnjähriger Junge über eine feste Beziehung, die er seit einigen Jahren zu einem ca. sechzigjährigen Mann unterhält:

„Ich finde es herrlich, es ist schön, auch beim ersten Mal schon war es so. Ich habe auch schon ein Mädchen gehabt, aber das war nicht so schön. Mit meinem älteren Freund tue ich es immer noch gern. Meine Eltern wissen das nicht, die sollen es auch nicht wissen. Es ist ein Geheimnis zwischen uns beiden. Meiner Meinung nach sollte das Gesetz geändert werden. Dann dürfte es sicher weniger Vergewaltigungen geben.“

Das Klischee des guten Onkels, des geilen Alten, der ein willenloses, wehrloses Kind verführt, fällt hier in sich zusammen. Der vierzehnjährige Junge bekannte sich frei zu seinen Gefühlen, für ihn ist es „schön“, „herrlich“. Ich kenne Peter jetzt seit zwei Jahren und ich habe in seiner Wohnung Jungen kennengelernt, bei denen ich das Gefühl hatte, dass sie gerne bei ihm waren, dass es ihnen Spaß gemacht hat, dass Peter ihnen etwas Anerkennung, Nähe und Wärme geben konnte. Es steht außer Zweifel, dass dies nur die schöne, die tolle Seite der Sexualitätsvariante Päderastie ist, doch es ist schön zu sehen, dass es diese Seite gibt, dass Päderastie für die Kinder und für die Päderasten schön sein kann.

Auf der anderen Seite steht der Strichersub. Der Straßenstrich, wie in München am Stachus, in einschlägigen Lokalen, Stundenhotels und den Klappen. Das Tabuisierte, das Verbotene wird vermarktet, bekommt seinen Platz in unserer konsumorientierten Gesellschaft zugewiesen. Kinder brechen aus den kaputten Familien, aus den Heimen, den Internaten aus. Sie sind auf der Flucht vor ihren Eltern, den Erziehern, Heimleitern, der Polizei. Sie haben oft keine Alternative. Sie brauchen Geld zum Leben. Wenn sie etwas älter wären, könnten sie in der Fabrik arbeiten. Sie sind nicht älter, sie sind 12, 13, 14, 15. So machen sie ihren Körper zur Ware und handeln mit ihrem Alter. Möglichst lange möglichst jung aussehen, heißt das oberste Gebot. Sie erzählen jeden Tag eine andere Lebensgeschichte, sie flippern und lassen sich von Leuten wie Peter bumsen – manchmal für etwas Wärme, für Zärtlichkeit, für sexuelle Befriedigung und für Geld. Warenbeziehungen.

Ich habe Peter erlebt, wenn er aus dem Strichersub frustriert und kaputt nach Hause kam und es nicht fertiggebracht hatte, die Jungen auszunehmen, sich ausnehmen zu lassen. Es herrscht das Gesetz der Straße. Geld zählt. Sich bumsen lassen und immer die 50 Mark im Kopf, die man am nächsten Morgen dafür bekommt. Leute wie Peter, fast jeder Schwule über 35, stehen vor der Alternative, ihre Sexualität zu unter drücken oder die Kaputtheit, die Lustfeindlichkeit des Strichersubs, ihre eigene Unlust in Kauf zu nehmen.

Zu meinem eigenen ungeklärten Verhältnis zur Kindersexualität, einer nicht gelebten, verdrängten Sexualität, zu meiner Ablehnung von Warenbeziehungen, die ich sehr wohl aus der heterosexuellen wie auch aus der schwulen Szene kenne – Fleischmärkte -, kommt ein weiteres Problem. Peter ist nicht mehr jung. Er wird im nächsten Monat 51. Er ist nicht mehr attraktiv, er ist alt, verbraucht, faltig. Er entspricht nicht mehr dem bürgerlichen Begriff körperlicher Ästhetik. Danach ist er vielmehr der mit Ekel behaftete, geifernde Alte. Mütter schützt Eure Kinder! Lehrer der Wörth-Schule in Haidhausen, die ihre Schüler vor Peter warnen, Polit-Linke, die in Peter gerne den Anarchisten, den Uralt-Linken, den Fighter sehen, sein Schwul-Sein und seine pädophile Sexualität allzu gerne negieren. Staatsanwälte, für die Peter die Inkarnation des Bösen sein muss: Anarchist, Schwuler, Päderast.

Heterosexuelle, Schwule und Lesben, Masochisten und Sadisten, Päderasten. Die Hierarchie der Unterdrückung der verschiedenen Sexualitätsvarianten ist unverkennbar. Am Fuß der Pyramide steht der Päderast. Er hat die gesellschaftliche Rollenerwartung als Mann nicht erfüllt, er liebt sein eigenes Geschlecht. Er vergreift sich an der Unschuld der Kinder, missachtet die heilige Familie, ist kein guter Vater. Er soll sich vor allen rechtfertigen, am 9. Mai, „im Namen des Volkes“: Eine Sexualitätsvariante, deren mögliche Schönheit verleugnet, die geächtet und vom Gesetzgeber strafrechtlich verfolgt wird, verliert an Schönheit, wird ghettoisiert, kriminalisiert und erscheint zwangsläufig kaputt.

Seitdem die Schwulen im Kampf gegen ihre Diskriminierung und Unterdrückung erste Erfolge verbuchen können, tut sich auch wieder was in Sachen Päderastie. In zahlreichen Artikeln und in seinem Buch „Besuche in Sackgassen“ hat sich Peter mit dem Problem der Päderastie beschäftigt und so wesentlich mit dazu beigetragen, dass heute eine bundesweite Diskussion über die Pädophilie in Gang gekommen ist.

Vor kurzem hat sich in Königswinter ein Kongress, an dem zahlreiche bekannte Sexualwissenschaftler teilnahmen, mit der gewaltfreien Liebe zwischen Erwachsenen und Kindern befasst und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse über angebliche psychische und physische Schäden als Folge solcher Beziehungen gibt. In vielen Städten entstehen die ersten Päderastenvereinigungen, -diskussionszirkel: Selbst die Schwulengruppen, Frauengruppen der Berliner Jungsozialisten, der Jungdemokraten und der Humanistischen Union haben sich an den fahrenden Zug angehängt. In einem Gesetzentwurf fordern sie die „ersatzlose Streichung“ des zu Beginn zitierten § 176.

Wie sagt der vierzehnjährige Junge: „Meiner Meinung nach sollte das Gesetz geändert werden.“

Der Prozess beginnt am Mittwoch, den 9. Mai, um 13.45 Uhr, im Saal A 225/II des Justizgebäudes Nymphenburgerstraße 16. Im Blatt, in der Basis, im Trikont, im Milb liegen Unterschriftenlisten aus, die die Einstellung des Verfahrens fordern. Auch ein Herr Sporer wird eingreifen, dass uns kein Richter, auch nicht im Namen des Volkes, von der alleinigen Richtigkeit seiner Sexualität überzeugen wird. Übrigens: Seine Sexualität, ein Beweis für seine Befangenheit.

Helmut


Blatt. Stadtzeitung für München 145 vom 4. Mai 1979, 12 f.

Überraschung

Jahr: 1979
Bereich: Jugend

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