Materialien 1979
Prost ...
Nachruf
Zwei Wochen hat sie nur gedauert, und nun ist sie schon wieder vorbei, die 5. und gleichzeitig schönste Jahreszeit – die Starkbierzeit. Laut genug hat er ja gerufen, der Berg, auf Litfaßsäulen und Plakatwänden, in Fernsehen und Radio, in sämtlichen Zeitungen und Illustrierten, zur „bayerischen Schluckimpfung“, zur „Frühjahrskur“, zum Salvator.
Einmal mehr hat es gegolten, die Saufrekorde des Vorjahres zu brechen und kein richtiger Bayer, Preuss oder Ami hat es sich nehmen lassen, hier seinen höchstpersönlichen Beitrag zu leisten – auch wenn ’s dem einen oder anderen bei DM 4.35 pro halbeingeschenkter Maß ein bisserl schwergefallen sein mag. Aber das Nachdenken und Granteln über die Nepp-Preise vergeht ja wie von selbst nach zwei bis drei Maß, genauso wie das Nachdenken überhaupt beim Saufen.
Dass sich die Brauereibesitzer die Hände reiben bei den Riesenprofiten, die ihnen da ersoffen werden, ist eh klar – aber sollte da vielleicht noch jemand ein Interesse daran haben, dass obligat-wahnwitziger Alkoholkonsum zur Norm oder gar hysterischer Massensuff zum Höhe-
punkt gesellschaftlichen Lebens wird?
Statt Opium, Starkbier für’s Volk? „Ein starkes Bier, ein beitzender Toback …“, und wen inter-
essiert schon noch, was vor sich geht jenseits des Dunstkreises des eigenen Biertisches.
Landesvater Strauß mitsamt seiner fast vollständigen Fraktion aus dem Landtag, Kiesl mitsamt seinen Stadtvätern sowie ein paar sonstige Väter aus Bonn waren erschienen zur sogenannten „Salvatorprobe“ und saßen nun in uniformem Trachtengewande einmütig in einer Reihe mit ihren Spezl’n aus dem bayerischen Großkapital – fürwahr, ein wackeres Häuflein, diese sechshundert Prominenten. Kommentar eines Arbeiters, der gerade Maßkrüge ausschrubbte: „Da wannst a Bombn neischmeißen tätest …“ Trotz des nur rein philosophisch gemeinten Aphorismus hielt er sich doch erschrocken die Hand vor den Mund, angesichts der schwerbewaffneten Polizeistaffeln, die, um jedwelche terroristischen Anschläge auf die versammelte Polit- und Geldelite im Keime zu ersticken, schon im ersten Morgengrauen den Nockherberg in eine Nockherburg verwandelt hat-
ten; vielleicht, dass ein radikaler Schankkellner dem Kiesl in’s Bier gespuckt hat … Die Reden und Sprüche auf die Anwesenden waren hörenswert: „Es gibt in Bayern wenig Intelligente, aber wenn einer intelligent ist, ist er’s mehr als alle zusammen.“ Wer da wohl gemeint war?
Am Samstag nach dem Prominentenanstich öffnete dann der Berg endlich seine Pforten für das lechzend schon in Riesenschlangen zu seinen Füßen drängende gemeine Volk. Tausende strömten herein und brachten es gleich am ersten Tag auf stolze 30.000 Maß.
Was mag die Menschen so faszinieren an diesem Berg? Ist’s der krachlederne Geruch von dunklem Bier in Steinkrügen, der fettige Dunst von gegrillten Hendln und angekohlten Schweinshaxn, der undurchdringlich beißende Qualm der unzähligen Zigarren und Zigaretten, ist’s die urig-bayeri-
sche Atmosphäre mit der krachenden Blechmusi, die mit 120 Phon und „Auf und nieder immer wieder“ Nerven und Trommelfell auf eine gnadenlose Zerreißprobe stellt, ist’s das Gefühl, dabei zu sein, um jeden Preis, das große Zusammengehörigkeits-Feeling, die zutiefst innere Verbundenheit mit den Tausenden, mit dem Volk, das sich eingepfercht auf den engen Holzbänken drängt und von einem schweißtriefenden Blasmusik-Pawlow in den kurzen Verschnaufpausen aufs Maßkrug-
heben und -leeren konditioniert wird: „Oans, zwoa, drei, gsuffa!“ Ist’s die weiß-blaue Tradition, die die Menschen in Scharen hierher treibt oder blind-untertäniger Gehorsamsgeist gegenüber dem Propagandadiktat der Brauereibosse – oder ganz einfach wirklich, „weil’s Bier so guat is und weil’s so gmiatlich is“? Weil man sich hier so richtig wohlfühlen, mal einen draufmachen und auf den Putz hauen kann, weil man hier mal richtig Mensch sein kann?
Was das heißt, erlebten die Putzleute jeden Morgen, wenn ihnen beim Saubermachen um 5 Uhr früh der würgende Gestank des Gekotzten unter den Tischen und in jedem Eck entgegenschlug, wenn sie knöcheltief in Dreck und sauerem Bier wateten, wenn für einen jämmerlichen Stunden-
lohn der alte Rentner, dem seine Rente hinten und vorne nicht langt, der Student, der sein Studi-
um finanzieren muss, der arbeitslose Jugendliche, der entlassene Stadelheimer, der sonst keinen Job kriegt, die Überreste des „Menschseins“ der andren, geldigeren, wegschaufeln mussten.
Die Frauen, verhärmte alte Weiberl, deren „Einkommen“ vom Sozialamt reine Verhöhnung ist, kriegten noch weniger bezahlt; sie mussten die Toiletten putzen, eine Arbeit, die wirklich keinem zu wünschen ist, außer den Schweinen vom Vortage, die für diesen unvorstellbaren Saustall verant-
wortlich sind, oder den Brauereibossen in ihren feinen Anzügen, die daran verdienen, dass die einen ihre Menschenwürde freiwillig verlieren und sie den anderen geraubt wird. Prost!
Blatt. Stadtzeitung für München 143 vom 6. April 1979, 6.