Materialien 1979

Über Zivilcourage am unsicheren Ort

»Mut, überall unerschrocken seine eigene Meinung zu vertreten.« (Duden-Fremdwörterbuch)
»Mut, die eigene Überzeugung zu vertreten.« (dtv-Lexikon)

Die Dürre enttäuscht. Und: Mut, wirklich in jeder Situation?

Wenn bewaffnete Heiden einen Juden einfingen und von ihm forderten: »Schwör ab, sonst wirst Du erschlagen«, und der Mann war ein knorziger Jude und schwor nicht ab und die Philister töteten ihn, so war das nach dem Verständnis der frommen jüdischen Lehrer weder Zivilcourage noch Mut, sondern ein Abfall vom Glauben: Jahwe wollte nicht, dass Juden sterben. Leben sollten sie. (Und wenn gar zehn gefangen waren, also genügend Leute für ein rituelles Gebet, und die schworen ab, so galt das als Landes- und Gottesverrat.) Unser Jude konnte bekennen oder auch nicht, er war — im Vorhof des Tempels, auf seinem Acker, am Herd — eines Volkes und Gottes, und er war mit den Philistern einer Zeit.

Zivilcourage dagegen gehört — wie die »Meinung« — in eine spätere Epoche der Kompatibilität, der Trennung, des Partikularen. Bürgermut vor Fürstenthronen, Bürgerstolz statt Liebedienerei: das setzt die Überschichtung von Zeitaltern voraus; von Kapitalismus, Adel und Monarchie, von Kasten (seien es Offiziere oder Beamte) und Klassen (Arbeitern, >Mittelstand<, Bourgeoisie), von erheblicher Legitimität oder erworbenem Besitz, von >Familienrang< oder dem — neuen — Rang der Individualität. Noch glänzen Thron und Altar, aber sie stützen das, was sie stützt: das Finanzkapital, die großen Unternehmer. Noch gibt der Adel den Ton an, noch herrscht er. Aber der Bürger handelt.

Das Ganze: Das ist jetzt der Weltmarkt und nicht mehr nur ein Volk, ein Tempel, eine Zeit. Für bürgerliche Auffassungen des neunzehnten Jahrhunderts konkurriert der Weltmarkt nicht sozusagen selbst, sondern er ist eine Raum/Zeit-Universale für Konkurrenten — und noch heute schließt dieses Ganze die Partikularität organisierter Interessen nicht aus, sondern ein.

Die >unerschrockene Meinung< (Zivilcourage!) wurde jetzt zum Ausdruck konkurrierender wirtschaftlicher und sozialer Interessen. Zivilcourage wird daher bei den aufstrebenden Ständen und Klassen durch Rücksicht auf Geschäfte oder Stimmengewinn reguliert: klug ist, was nützt — auch Zivilcourage kann nützen, etwa dort, wo sich die aufstrebende Klasse an den Kasten reibt. Da wird sie sogar literaturfähig: Sie macht dem Offizier das Monopol auf Tapferkeit streitig, manchmal sogar aufs >Dienen<, sie setzt in den Behörden das >Manneswort< gegen die Anmaßung eines Verwaltungsakts.

Die Bourgeoisie der Provinz (insbesondere des deutschen Südens), der barocken Residenzen, sträubt sich lange gegen solche alle bornierten Gemeinwesen auflösende Normalität der »Wirtschaftswelt«, ja selbst gegen den Staat insofern, als die Steuergesetzgebung den urbanen, industrialisierten Norden begünstigt: mit ihm die Zivilcourage.

Sie erhebt sich also über den Klassenkämpfen, dem Streit zwischen Kaste und Klasse, dem Partikularismus der Region. Als — eher seltene — Qualität der öffentlichen Existenz des Bürgers, dessen Privatsphäre im übrigen niemand angeht (für den Pater familias war Zivilcourage lästig, und Martin Luther, mutig genug vor dem Reichstag zu Worms, wollte lieber einen toten als einen ungehorsamen Sohn). Als öffentliche Person ist der Bürger sogar dem König gleich: Zivilcourage ist an die Idee des Individuums geknüpft, also an den gleichen transzendentalen Rang oder Wert des Kontrahenten, wie ungleich er empirisch auch sein mag. Zivilcourage enthält also eine Art von Angebot: auch mein Gegner soll Person sein, als Individuum mir gleich. Und eben das Verschwinden dieses Verhältnisses macht die Zivilcourage heutzutage oft so rabiat: Sie wütet gegen die Zumutungen der Macht, der Behörde, der Partei — nicht, weil die Zumutungen zu groß, sondern weil sie so stupide sind.

Was wird aus der Zivilcourage unter solchen Bedingungen einer fortwährenden Reduktion räsonierender Öffentlichkeit? Über dem >Weltmarkt<, der >Überschichtung von Zeitaltern< erhebt sich zunehmend eine Großwetterlage, die der Zivilcourage die Atemluft entzieht: die Tendenz zur Normalität.

Schon die Produktionsweise der frühen industrialisierten Gesellschaften hatte eine Universalität der Lebensbedingungen für alle Kasten, Klassen und Provinzen hergestellt, die geschichtlich ohne Beispiel ist: in Arbeit und Verkehr, in >Freizeit< und Massenkommunikation, in der sozialen Organisation der Familie, in der Sexualität und in der Klinik des Sterbens (das alles unter den entsprechenden Leitworten: Ware, Qualifikation, Arbeitsdisziplin, Markt).

Doch im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts verändert sich das gesellschaftliche Leben erneut: Die Nationalstaaten transformieren sich in >technisch< gesteuerte, komplexe Systeme von ökonomisch-politischer Funktion. Fast jedes Subsystem — sei es die Region, die Gemeinde, die Bildung — wird förmlich in einer zweiten Kolonisation etatistisch reguliert; das Parlament wird entpolitisiert. Der Staat setzt dank neuer Technologien von Planung und Herrschaft dem verschachtelten Gemenge des gesellschaftlichen Lebensprozesses seine Rahmenbedingungen, denn regierbar ist nur ein homogenes Medium.

Das Ergebnis dieser Normierung und Integration ist eine neue Gestalt von >Wirklichkeit<, eben die Normalität, die das Partikulare, das qualitativ Andere nur noch als Abweichung registriert, in der Regel ein Fall für den Arzt oder die Polizei: Das Besondere verschwindet im Abseits. In dieser Normalität verzichtet auch die aufstrebende Klasse auf die Hegemonie (die >Diktatur des Proletariats<), sie will nicht mehr >eine Wahrheit auf Kosten jeder anderen Wahrheit<.

Die Differenz einander überschichtender Zeitalter wird eingeebnet: Stadtkerne und Verkehrssysteme, Bildung und Sprachfärbungen, Umgangsformen und Wahrnehmungsweisen werden »modernisiert«. Wo dann der Lokalbürger und unternehmerische Patriarch das Partikulare noch freiheitlich ernst nimmt, erscheint zwar Zivilcourage, aber in ihrer knorzigen Gestalt, als Bayer oder Schwabe (dass der Hanseat Orden ablehnt, ist keine Sache von Zivilcourage: die Hamburger Verfassung gestattet die Annahme nicht). Freilich ein schwacher point de résistance: Beim lokalen Establishment mehr eine Sache auswärtiger Beziehungen — zu den >Nordlichtern<, den Preußen (und das verträgt sich nach innen durchaus mit allen nur denkbaren Formen von Lakaientum und Liebedienerei); beim fleißigen Landmann hingegen (und öfter auch bei den >Großkopfeten<) tritt es als längst überständiges Moment des Anti-Urbanen auf. Zivilcourage ist aber, wie die Freiheit, eine Tugend der Urbanität.

Bleibt aber nicht zumindest die Differenz der Lebensalter und damit ein Moment der Partikularität, der Vielfalt, der Qualität? Hier arbeitet die Segregation für die Normalität: die Altersstufen werden durch Trennung für die Normalität unschädlich gemacht (unter Mithilfe der Linken, die, noch ehe ein Kind geboren ist, bereits den >Laden< gründet, wo es mit andern Kindern unter sich sein kann). Und die Differenz der Geschlechter? Ja, partnerlook und unisex, ein gemeinsamer Hang zur narzißtischen Feigheit — und Segregation auch dort. Ein solches Ende der Geschichte teilt sich selbst den Individuen mit, die die Ordnungslasten, die unsere Normalgesellschaft und -zeit ungerührt auf den Einzelnen abwälzt, nicht mehr länger tragen wollen: Natur wird ihr großes Schibboleth, biologisch-dynamisch gedüngt.

Die Realität der Industriegesellschaft um uns, ihre »etatistische Produktionsweise« (H. Lefebvre), droht zu einer Art Sachzwang selbst für die Chancen von Wahrnehmung und Affektivität zu werden. Ihre universale Funktionsstruktur beginnt, sich Bevölkerungen anzueignen: die Funktion wird in den Menschen Subjekt. Und wer nicht mitabstrahiert, der wird abstrahiert. Gewiss, die Realität funktioniert nicht ganz, nicht befriedigend genug, es gibt Störungen, die — vielleicht — nie reparierbar sind, Materialfehler, übermäßige Komplexität; aber ein Haltegriff, an dem ein Wille zur Veränderung ansetzen könnte, sind solche Störungen nicht. Es bröckelt nur. Auch die Kompetenz, die Greifkapazität dieser neuen Normalität erweist sich eben als begrenzt — da und dort ziehen sich Staat, Plan, Kapital oder Funktion zurück, es entstehen Löcher im Vergesellschaftungsprozess, wo es frei, schäbig, bedeutungslos zugeht.

Nur das Ganze — der Weltmarkt — wird in gewisser Weise entstrukturiert, es konkurriert wiederum mit dem Sechstel der Erde, den Ländern der Dritten Welt. Eine dominierende Struktur, um die sich noch das Besondere legt, zugleich auch die alte (moderne) Welt, die der »Überschichtung von Zeitaltern« — eine Koexistenz von Geschichte und posthistoire, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichten. Das Verhältnis von Normalität und Dissidenz koexistiert also mit Klassenherrschaft und sozialer (»revolutionärer«) Bewegung, der zeugende Widerspruch mit der Variation. Und die Zivilcourage (die doch aus einer Ära der Dialektik stammt)? Und die Klugheit?

Wo liegt denn, heute, der Bürgermut in der Zivilcourage, wo der Stolz des Individuums, das sich den »Herren« — transzendental! — gleich weiß? Für die Welt unserer Väter, die sich mit der modernen dauerhaft verfilzt hat, war diese Frage noch fortschrittlich zu beantworten; ein intelligibles Moment, die »Klugheit«, kontrollierte damals die Zivilcourage. In der Erde der Normalität, im posthistoire, wechselt solche Funktion des Großhirns ihren Ort, pointiert: Denken ist jetzt schon Zivilcourage.

Dass im Weine Wahrheit liegt
hörte ich schon in jüngeren Tagen
Dass heißt, dass einer betrunken sein muss
der es wagt, noch die Wahrheit zu sagen (A. Moszkowski)

Das war richtig, als es geschrieben wurde, zu Lebzeiten Freuds. Die Normalität, die eine besondere, geschichtliche Wahrheit nicht duldet, löst sich nicht so leicht — wie das Über-Ich — in Alkohol. Bei den Vätern war es noch prinzipiell sinnvoll, eine jeweils besondere Situation nach Bedingung und Folge einzuschätzen: Zivilcourage nur jenachdem.

Im posthistoire beginnt die Zivilcourage damit, dass einer die jeweils besondere Situation gegen die übermächtige Tendenz zur Homogenität, zur Normalität, zur Linearität verteidigt, ja sogar: dass er sie als >besondere< wahrnimmt. Zivilcourage erscheint jetzt bereits als Spontaneität, das heißt als Wagnis eines respektlosen Denkens, das sich dem majoristischen Druck der Normalität, den geordneten Verhältnissen, der bröckligen Glätte des Funktionierens entgegenwirft. Die Realität könnte anders sein: dies noch zu sehen, ist — schon — Zivilcourage.

Was hat Spontaneität, die sich vom Gegebenen befreit, mit Mut, mit Courage zu tun und was mit dem großen Z? Die lexikalische Erklärung der Zivilcourage ist jedenfalls Unsinn: So weit die Moderne reicht, sind nicht nur »Meinungen« beliebig, auch »Situationen« (als etwas Besonderes, vielleicht Einmaliges, nie Wiederholbares) kommen im posthistoire nicht mehr vor; die Varianten der Normalität kennen das Moment der Überraschung nicht, als das eine >Situation< sich uns enthüllt. Aber wie kommt der Mut, dass große C, in die Spontaneität?

Letzen Endes, weil die homogene, quasi-universale, lineare Realität der Gesellschaften im posthistoire die Emanation des (halb realisierten, sich immer mehr realisierenden) Machtanspruchs, ja Machtmonopols ist. Diese eindimensionale Realität ist nicht mehr, wie in der langsam vergehenden geschichtlichen Erde, Raum und Zeit für Parteien, die miteinander konkurrieren, sie ist selbst Partei. Und was die Ware an Partikularem, an Qualität noch übrig ließ, wird polizeilich unterdrückt: Das >Besondere< als Sicherheitsrisiko.

Wessen Partei nimmt diese Realität, die sich so gibt und anfühlt, als sei sie jeder Parteiung entrückt? Denn in der Tat bilden die Parteien im politischen System, wenigstens in der Bundesrepublik, eine Art große Koalition, wenn es um die >Sache<, das Funktionieren, das >Machbare<, die Normalität geht, dazu gibt es keine Alternativen mehr, nur Varianten. Da hatten es die Väter vergleichsweise noch gut: Das »Allgemeine«, das waren die Interessen des Kapitals, vom Staat als dem geschäftsführenden Ausschuss der Bourgeoisie modifiziert. Die proletarischen Interessen waren demgegenüber sichtbar und organisiert als spezielle, und soweit die Erde der Revolution, die der »Überschichtung der Zeitalter« noch existiert, bleibt dies wahr (nur dass die darin aufstrebende Klasse, das Proletariat, keine rechte Verwendung hat für Zivilcourage, als einer Moralität des aufstrebenden Bürgertums).

Innerhalb der dominierenden Struktur des posthistoire tarnt sich kein besonderes gesellschaftliches Interesse (das in einem materiellen Sinn >partikular< wäre) als das »Allgemeine«. Es emanzipiert sich dabei von den Schranken, die ihm ein vorgestriges System von Herrschaft setzt, und wird zum abstrakten System von Herrschaft selbst; es ist der Staat — als Planung, Verwaltung, zentralisierende Macht — der sich da emanzipiert.

Unter solchen Umständen kann es bei Zivilcourage nun nicht mehr um den Mut gehen, wirklich die eigene Meinung zu sagen — eine »Meinung«, das ist etwas, worin sich ein konkurrierendes gesellschaftliches Interesse ausdrückt, alte Erde — es geht um den Mut, eine wirklich eigene Meinung zu haben. Eine Meinung, also eine Parteinahme für das Partikulare — das ist etwas, worin sich der Aufstand gegen die Normalität, gegen die zentralisierende Macht, ausdrückt. Zivilcourage ist so das Resultat einer Abweichung, die dem Druck der >realen Normalität< nicht erliegt, auch nicht dem der >realen Politik< — und dies bis in Wahrnehmung, Sinnlichkeit und Gedanken hinein.

Was wäre dann mit jenem Wirklichkeitssinn, der im Zeitalter der Geschichte die Zivilcourage zu kontrollieren hatte? Eins teilt sich in zwei. Wirklichkeitssinn tritt auseinander in zwei Alternativen, zwischen denen es kaum noch Vermittlungen gibt: in ein Lager der Spinner – sie sehen (mit Musil gesprochen) ein Wahres, aber es stimmt nicht -, und in ein Lager der Normalen – was sie sehen, stimmt, aber es ist nichts wert.

Arme Zivilcourage! In beiden Erden, die sich verfilzen, ist sie eine Sache des Subjekts, das sich vereinzelt, Moral versus Macht. Arme Zivilcourage? Es gibt eine Dialektik von Anpassung und Widerstand, in der auch der Streit um die Zivilcourage seinen logischen Ort hat. Zwar widersteht auch der listige Lügner, aber er ist im geltenden Wertsystem niemandes Vorbild, er lügt für sich. Zivilcourage hingegen ist >wahr< für sich und für andere, sie ist eine Tugend, ihr Ort ist die Öffentlichkeit. Allerdings hatte in der Ära der sozialen Bewegungen das Wertsystem noch irgendein fundamentum in re. Heute täuschen solche Tugenden darüber hinweg, wie es im Zeitalter der Normalität, in der Arena der nicht-öffentlichen Mächte und schweigenden Mehrheiten wirklich zugeht.

Also keine Zivilcourage? Ich erinnere mich da einer Bemerkung Theodor W. Adornos zur Treue; ich möchte sie versuchsweise variieren. Zwar stabilisiert Moral — als >Kampfmoral<, Mut, >Bekenntnis< — den Schein, als ginge es noch moralisch, also geschichtlich zu. Insofern wäre Zivilcourage Theaterdonner, der dem Spektakel der dominierenden Struktur zu Buch schlägt. Doch nur eine solche Moral des Mutigen, des >Bekennenden< kann in der Realität des posthistoire noch das Besondere, die Qualität, verteidigen und damit den einzigen Haltegriff in der bröckligen Glätte der Normalität. Dieses >Besondere< ist nur noch in Teilen das spezifische Interesse einer Klasse: Revolutionär, Dialektiker kann der Mutige nicht mehr ganz sein. Er ist eben Dissident, und sein Mut ist der des einsam wandelnden Nashorns. Des Einzelgängers, der seiner Autonomie nicht mehr ganz traut … noch zur Zivilcourage pflegt er ein ironisches Verhältnis, obwohl er doch in die verbreitete Trauer über den »Verlust der Subjektivität« nicht ganz einstimmen kann. Wieso, er hat noch Subjektivität.

In der Zivilcourage verschlingt sich die alte mit der neuen Welt. Der alten erscheint sie suspekt, der neuen gefährlich, aber auch lächerlich.

Adventavit asinus
pulcher et fortissimus

Da kommt der Esel, schön und herrlich: Die Zivilcourage als Geistererscheinung auf der leergeräumten Bühne der Öffentlichkeit. Sei’s drum. Angesichts der Koexistenz von Geschichte und posthistoire ist jeder Ort unsicher, an dem etwas lebt.


Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik 1/1979, 34 ff.

Überraschung

Jahr: 1979
Bereich: Lebensart

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