Materialien 1979

Demokratische Psychiatrie

oder
Patienten aller Länder verteidigt Euch

Aus Italien kommen Aktivisten zu uns, um über die Abschaffung der Psychiatrie zu berichten und um mit uns darüber zu diskutieren. Nun, das scheint mir sehr wichtig, denn unsere deutschen Aktivisten sind gerade dabei, eine riesige therapeutische Gemeinschaft zu gründen, oder vielleicht sollte ich besser sagen, sie versuchen statt eine Entpsychiatrisierung zu beginnen, eine Massenpsychiatrisierung einzuleiten …

Die deutsche Psychogemeinschaft hat, wie wir sehen, viele, viele Möglichkeiten gefunden, dem Menschen wieder zu einem gesunden Körper zu verhelfen.

Die Ideologie, die uns hier mitgeliefert wird, ist ja wohl eine ganz menschliche. Sie ist körperorientiert, individualistisch und familienstabilisierend. Sie zeigt uns auch, dass wir alle Patienten sind, denn unsere Leiden und unsere Schwierigkeiten sollen in uns stecken. Wir mussten nur tief genug in uns hineinschauen, langsam und tief atmen und das, was tief in uns ist, herauslassen und schon sind wir unsere Leiden los oder können wenigstens gut mit ihnen umgehen. Wir können dann gut unsere Gefühle ausdrücken, können uns an den Händen halten und uns auch streicheln, lernen besser mit unseren Aggressionen umzugehen und sind weniger empfindlich gegenüber den täglichen Problemen des Lebens. Das Leben soll so wieder lebenswert werden. Das erinnert mich auch an das Reformprogramm der SPD

Wenn Leistungsdruck und Konkurrenz, Profitstreben und Stress, sowie entfremdete Arbeit und vom Warencharakter bestimmte zwischenmenschliche Beziehungen krank machen, dann reicht es sicher nicht aus, körperorientierte individuelle Therapie zu machen. Vielleicht können diese am einzelnen Menschen orientierten Methoden ein Teil sein, um sich selbst zu verändern, aber wirklich nur ein Teil.

Wir müssen Methoden entwickeln, mit denen wir die gesellschaftlichen Widersprüche, die wir in uns tragen, ertragen und auch gegen sie vorgehen können. Die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen stehen eben im Widerspruch zu den Bedürfnissen dieses gesellschaftlichen Systems. Wir können eben unsere Gefühle nicht nur deswegen nicht zeigen, weil wir es bei unseren Eltern nicht gelernt haben, sondern auch deswegen nicht, weil der Vater am Arbeitsplatz keine Gefühle zeigen darf. Die depressive Hausfrau wird ja nicht nur deswegen depressiv, weil sie sich nicht gegen ihre Mutter wehren konnte, sondern auch weil die Mutter unter der Doppelbelastung litt und die Enge der Kleinfamilie nicht dafür geschaffen ist, ein Klima der Nichtentfremdung zu ermöglichen, sondern eben die Regeln der harten gesellschaftlichen Realität auch das Familienleben bestimmen.

Jedes psychische Leiden der Menschen hat seinen Ursprung in den Regeln und Strukturen, die uns die Gesellschaft vorgibt, auch wenn die direkte Vermittlung in Partnerschaft und Familie erfolgt.

Einen methodischen Ansatz für einen Weg, wie wir ihn wohl gehen könnten, hat uns die sogenannte Radikale Psychiatrie aus Amerika gezeigt. Einen anderen Weg haben die Demokratischen Psychiater in Italien eingeschlagen und einige von ihnen wollen nun mit uns darüber reden.

Also Aktivisten, Patienten, Menschen vereinigt Euch und verteidigt Euch gegen eine Ideologie, die Euch sagt, dass alles Leiden nur in Euch stecke!!!!!!!

Pan


Blatt. Stadtzeitung für München 156 vom 5. Oktober 1979, 12 f.

Überraschung

Jahr: 1979
Bereich: Psychiatrie