Materialien 1979

Protest mit Bettüchern

Große Aktion der Bewohner in der Emil-Riedel-, der Oettingen- und Sternstraße gegen den Durchgangsverkehr

Nach Schätzungen der Bürgerinitiative Oettingen-/Sternstraße folgten mindestens 700 Anwohner ihrem Aufruf und hängten am 30. März Tücher aus den Fenstern, um so erneut den unmenschli-
chen Durchgangsverkehr in der Emil-Riedel-, der Oettingen- und der Sternstraße anzuprangern. Im Verlauf der gleichzeitig durchgeführten Straßenaktion mit Plakaten und Atemschutzmasken verletzte ein wildgewordener Autofahrer eine ältere Fußgängerin so schwer, daß sie in ärztliche Behandlung musste.

Im folgenden drucken wir eine ausführliche Pressemitteilung der Bürgerinitiative ab, in der die Aktion am 30. März geschildert und die Forderungen der Anwohner nochmals aufgeführt werden. Im nebenstehenden Kommentar nimmt die Bürgerinitiative zu dem Angriff des Autofahrers auf eine Fußgängerin und zu den Folgen dieses Vorfalls Stellung.

„Sehr viele Bewohner der Emil-Riedel-, der Oettingen- und der Sternstraße im Lehel folgten einem Aufruf der Bürgerinitiative Oettingen-Sternstraße zur Aktion gegen den unzumutbaren Durch-
gangsverkehr in diesen Straßen.

Aus ca. 700 Fenstern hingen am Freitag, den 30. März 1979 von 15.00 bis 18.00 Uhr weiße und bunte Tücher als Zeichen des Protestes. An den Straßenecken hingen Plakate mit Aufschriften wie „Autolärm und viel Gestank machen hier die Bürger krank“ und „1.700 Autos pro Stunde – da ge-
hen wir zugrunde“. Vor dem Vincentinum, dem Altersheim in der Oettingenstraße war auf einem riesigen Transparent zu lesen: „145 alte Menschen – 15.000 Autos pro Tag – Unfallgefahr – Lärm – Abgase“. Durch die Straßen zogen Menschengruppen mit Atemmasken und umgehängten Pro-
testplakaten.

Mit dieser Aktion der Bürgerinitiative sollte erneut deutlich werden, dass die Bewohner in den drei Straßen die schädlichen Folgen des unmenschlichen Straßenverkehrs nicht mehr hinnehmen wol-
len. Durch die genannten engen Wohnstraßen fließt seit Jahren ein ständig zunehmender Verkehr von Autos, wobei vor allem die Schwertransporte zur Großmarkthalle und zum Schlachthof durch Abgase, Lärm und Erschütterung den Anwohnern zu schaffen machen.

Die Anträge der Bürgerinitiative, auf Bürgerversammlungen und im zuständigen Bezirksausschuss 13 gestellt, wurden bis vor kurzem von der Stadt zurückgewiesen. Neuerdings prüft die Stadt je-
doch, welche Entlastungsmöglichkeiten für die drei Straßen bestehen. Mit der Protestaktion der Bürgerinitiative vom Freitag wurde eine Beschleunigung der städtischen Prüfung und Planung gefordert.

Auf Flugblättern verlangte die Bürgerinitiative folgende Sofortmaßnahmen:

 Umleitung des Schwerlastverkehrs zum Schlachthof und Großmarkt über den Autobahnring Ost.
 Umleitung des Verkehrs teilweise über Prinzregentenbrücke, Altstadtring, Maximilianstraße bzw. Zweibrückenstraße.
 Auch ein im Baureferat kürzlich angedeuteter Vorschlag, die Einbahnregelung in der Widenmay-
erstraße aufzuheben, findet die Zustimmung der Bürgerinitiative, wobei eine Verbreiterung der Widenmayerstraße und das Fällen von Bäumen abgelehnt wird.

Für die Bürgerinitiative ist jedoch eine echte Lösung des Verkehrsproblems nur durch Reduzierung des privaten Autoverkehrs und durch Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel und des Fahrradnet-
zes zu erreichen.“
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Der Kommentar

Unmenschlich ist der Durchgangsverkehr in unserem Straßenzug Emil-Riedel-, Oettingen-, Stern-straße: Wir können nicht schlafen; wir können nicht lüften; wir können uns nicht auf der Straße aufhalten.

Alle unsere zahlreichen durchaus realisierbaren Vorschläge wurden ohne überzeugende Argumen-
te bürokratisch abgeschmettert. Man hat uns bisher im Stich gelassen. Um auf unsere Notlage hin-
zuweisen, führten wir Anwohner am 30. März 1979 eine Aktion durch. Damit die Autofahrer uns überhaupt beachteten, stellten sich einige von uns an den Fahrbahnrand. Dadurch mussten die Autos sich von zwei auf eine Spur einfädeln. Der Autoverkehr wurde zeitweilig verlangsamt. Es gab keinen Unfall. Kein Auto erlitt einen Schaden. Schlimmstenfalls kamen einige Autofahrer einige Sekunden oder Minuten später nach Hause. Diese geringfügige Verzögerung veranlasste einen Kraftfahrer, aus dem Auto auszusteigen und eine zwischen parkenden Autos stehende 75jährige Frau zu Boden zu werfen. Sie erlitt Prellungen am Kopf und am Rücken und steht noch in ärztli-
cher Behandlung.

Die Polizei weist nun darauf hin, dass die Handlung des Autofahrers zwar strafbar sei, die Frau aber nicht berechtigt war, auf der Fahrbahn zu stehen und den Autoverkehr zu behindern. Dieser Hinweis ist eine bezeichnende und erschreckende „Gegenrechnung“: Brutale Körperverletzung einer älteren Mitbürgerin wird gewogen gegen „unbefugtes“ Betreten der Fahrbahn und Behinde-
rung des Autoverkehrs.

Nachsicht und Passivität zeigt die Polizei gegenüber Autofahrern (auch z.B. gegenüber solchen, die nachts mit hoher Geschwindigkeit durch unsere engen Straßen brausen). Eine Fußgängerin, die bei einer Protestaktion gegen Autolärm und Gestank tätlich angegriffen wird, weist die Polizei darauf hin, daß sie nicht „unbefugt“ die Fahrbahn betreten durfte. Nach wie vor hat also der Autoverkehr Vorrang vor dem Menschen.

Bürgerinitiative Oettingen-/Sternstraße


Lehel aktuell. Zeitung für den 13. Stadtbezirk 30 vom Mai 1979, 2.

Überraschung

Jahr: 1979
Bereich: Stadtviertel

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