Materialien 1979

Sendlinger-Tor-Platz und Gomorrah

Alle Tage wieder – rast der Presslufthammer nieder
oder
Die Vernichtung des Sendlinger-Tor-Platzes

Im Krablergarten, wo man jetzt noch unter alten Kastanienbäumen seine Halbe schlucken kann, soll demnächst eine Tiefgarage für noch mehr Autos in der Innenstadt sorgen. Am Sendlinger-Tor-Platz, wo jetzt noch der Rest des ehemaligen Biedermeier-Rundplatzes steht (zum Teil leer), sollen bald anheimelnde Bürokomplexe in den Himmel schießen. Plastik- und Beton-Biergarten finden dann auf dem Tiefgaragendach Platz.

Seit etwa einem Jahr kämpfen die Bewohner am Sendlinger-Tor-Platz um den Erhalt ihrer Wohnungen.

Der letzte alte Biergarten in der Innenstadt soll vernichtet werden.

Die Bürgerinitiative Krablergarten (BIK) konnte u.a. die Mehrheit der Bevölkerung von drei Stadtvierteln auf Bürgerversammlungen (Altstadt, Schlachthofviertel, Glockenbachviertel) für ihre Pläne gewinnen!

Jetzt sollen am 8. März als erstes die Häuser Sendlinger-Tor-Platz 4 und 5 sowie der Biergarten niedergemacht werden. War der Kampf umsonst? Wir meinen Nein!

Gerade durch unsere scheinbare Niederlage hat sich unser Durchblick über die gesellschaftlichen Zustände verschärft. Uns geht es jetzt nicht mehr nur um die Erhaltung unserer Wohnungen, sondern auch um das ganze Ausmaß der Wohnungsmisere in München und in anderen bayerischen Großstädten. Das Elend der Mieter und der Wohnungssuchenden ist unübersehbar geworden. Wohnungen werden in München nicht mehr gemietet. sondern ersteigert. Die Opfer jahrzehntelanger Spekulation mit Grund und Boden sind mal wieder die sozial Schwachen – aber nicht mehr nur diese Bevölkerungsgruppe, sondern in verstärktem Maße auch jetzt schon Angehörige der Mittelschichten.

Unverhoffte Schützenhilfe bekam eine Bürgerinitiative diesmal – siehe da – von der Kirche. Pfarrer Lubkoll von St. Mathäus, einer der aktivsten Mitstreiter für unsere Sache, attackierte das Münchner Parteienkalkül und die Kapitalbesitzer.

Zitate auf einer öffentlichen Versammlung der BIK:

Für Jesus war die Gier nach immer größerem Besitz, der Wunsch, immer mehr haben zu wollen, die größte aller Sünden. Er sagte: „Wehe Euch Reichen, denn Ihr habt Euren Trost schon empfangen.“

Der Verfasser des Jakobusbriefes fragt: „Sind es nicht die Reichen, die Euch Gewalt antun?“

Der Prophet Jesaja sagte im Blick auf die Grundstückspekulanten seiner Zeit, um 730 vor Christus: „Wehe Euch, die Ihr Haus an Haus reiht und Grundstück nach Grundstück an Euch bringt, bis kein Platz mehr da ist.“

Sicher ist die Vernichtung von Wohnraum in unseren großen Städten legal, durch den Gesetzgeber abgesichert. Aber was legal ist, muss noch längst nicht in Ordnung sein. Noch einmal zitiere ich Jesaja: „Wehe Euch, die Ihr unheilvolle Gesetze erlasst und unheilvolle Gesetze macht, um die Schwachen vom Gericht fernzuhalten und den Armen meines Volkes ihr Recht zu rauben.“ Ich sage nicht: „Wir leben in einem Rechtsstaat, deshalb können wir das Wort des Propheten Jesaja ausstreichen. „Es gibt keinen Rechtsstaat, der selbstsicher sein und sagen kann: „Bei uns ist ausnahmslos alles in Ordnung.“

Die Innenstadtviertel werden Zug um Zug dem Büro- und Geschäftsbedarf von Verwaltungen und Versicherungen, Kaufhäusern und Banken geopfert.

Auf eine freie Wohnung kommen bereits bis zu zweihundert Bewerber. Wenn Du durch die Innenstadt gehst, siehst Du eine Unmenge leerstehender Bürokomplexe und immer weitere werden gebaut. Niemand kennt die genaue Zahl der zwecks Spekulation leerstehenden Häuser und Wohnungen. Allein 12.154 sozial schwache Familien (Statistik Oktober 1978) hausen in menschenunwürdigen Löchern. Gleichzeitig werden immer mehr familiengerechte Wohnungen (große Altbauwohnungen) in unerschwingliche Eigentumswohnungen um„saniert“.

Mit der Aufhebung der Mietpreisbindung wurde den Spekulanten Tür und Tor geöffnet.

Nahezu jeder von Euch kennt das nervenaufreibende Suchen nach einem Zimmer oder einer Wohnung.

Nu is aber genug, ertragt die Schmach nun länger nicht.

Um der üblichen politischen Isolation entgegen zu wirken, haben wir am 1. Februar 1979 den Zusammenschluss mehrerer Bürgerinitiativen und -aktionen zu einer Schutzgemeinschaft zustande gekriegt. Mit Euch Betroffenen und anderen BI’s wollen wir uns am
3. März 1979, Punkt 12 Uhr
am Sendlinger-Tor-Platz, wo die vielen Wohnungen leer stehen, zu einer Protestaktion treffen.

Wir wollen doch mal sehen, ob der Sendlinger-Tor-Platz klammheimlich verwüstet werden darf.

P.S.: Außerdem planen wir für den
31. März 1979
einen gewaltigen Demonstrationszug durch die Innenstadt. Näheres dann im nächsten BLATT.

BIK Christian Schmitter, Josef Müller, Tel. 260 79 64


Blatt. Stadtzeitung für München 140 vom 23. Februar 1979, 7 f.

Überraschung

Jahr: 1979
Bereich: Stadtviertel

Referenzen