Materialien 1979
Sehr geehrte Spezialspezln!
Zunächst wieder meinen unverbesserlichen Mistrespekt für Euer Machwerk – aber diesmal ist er sozusagen mein Thema. Anhand Eurer letzten Nummer bin ich ihm endlich auf die Schliche ge-
kommen.
Nämlich, wie reagiert man auf wieder-mal-einen-Warnschuß vor den Bug? So ein ständiger Steiner des Anstoßes im Genick muss ja mal mürbe machen, nich? Da muss man sich ja mal endlich ir-
gendwie „verhalten“, finde ich.
Also, ICH wüsste, was ich tät. Ich tät dem sensiblen Herrn einfach keinen allzu dicken Anstoß mehr geben, erst recht dann nicht, wenn er wieder mal sensibilisiert worden ist und nun natürlich erst recht herblinzelt.
Aber Ihr seid eben nicht ich, und so kann denn Eure Reaktion in Nr. 147 einem echt an die Kopf-
schuppen gehen. Dermaßen einen Trumpf draufzusetzen, gleich auf der Titelseite, noch mit einer unverfrorenen Karikatur dazu, und drinnen gehts erst richtig los, und der Jakobi hackt auch wie-
der mit, als wär nichts gewesen – wirklich, ich dachte, gibts denn gar nichts auf der Welt, das jener rabiaten Dreistigkeit mal den Mund stopft und sie beeindruckt hinter den Ofen haut?
Darin liegt ganz sicher das Faszinosum Eurer Existenz – und ganz sicher auch das Geheimnis Eurer faktischen Unverwundbarkeit: in diesem Hydra-haften Nachwachsen der Köpfe, sobald mal einer wegfliegt, in diesem unkrautartigen Überwuchern momentanen Kahlfrasses – liebe Zeit, was gibts dann eigentlich noch gegen Euch, welches Schädlingsbekämpfungsmittel? Eigentlich kann man Euch doch bloß noch totschießen, alles andere reicht nicht aus.
Vielleicht bin ich bloß deshalb so beeindruckt, weil ich noch aus einer Zeit stamme, die im Wesent-
lichen nur lehrte, die Klappe zu halten: im Elternhaus, in der Schule, in der Ausbildung, überall. Ich stamme noch aus jener wohlbehüteten Ära, in der die Erwachsenen grundsätzlich recht hatten. Es ist der unbestreitbare Verdienst Eurer Generation, nachgewiesen zu haben, dass es mit diesem Rechthaben schauerlich aussah. Und dass es auch heute damit nicht zum Besten steht. Ich wurde erst im Zuchthaus gezwungen zu lernen, gegen traditionelle Autoritäten Sturm zu laufen. Ich tat es leise, in meine Schreibhefte hinein, damit mich niemand biß.
Dass Euch jemand totbeißt, ist – siehe oben – nicht zu erwarten. Für Euch kommen die Gefahren ganz woanders her, nämlich aus Euren eigenen Reihen – aus der Tatsache, dass Ihr an die Stelle der alten Werte keinen neuen setzen konntet. Es gab nur Ansätze, aber schnell ersoffen sie in einem Riesengeschnatter, in nur-noch-Worte anstelle des eigentlich nötigen Engagements. Aber darüber an anderer Stelle mehr – in einem (dann hoffentlich letzten) Anfall eines enttäuschten Sehnsüchtigen. Erst bescheißen einen die Erwachsenen, dann die Jungen – das soll einer aushal-
ten.
Noch so’n Gedanke hinterher: Ich habe mal auswandern wollen – aus Gründen, die man Euch wohl nicht erklären muss. Bei meiner Sucherei nach einem geeigneten Land dünkte mich schließ-
lich nur ein einziges geeignet, und gott-sei-dank, da war ich schon. – Teilt mir gelegentlich mit, ob dieser Gedanke denn gar so hoffnungslos absurd ist …
Gruß und Hallelujah!
Schlö
Blatt. Stadtzeitung für München 148 vom 15. Juni 1979, 50.