Materialien 1980
Lichte Momente des Bankkaufmanns
Morgens klebt er ein Pflaster auf den Mund seines Gewissens, dass es nur ja schweige.
Mit Hinterlist erbeutetes Geld halbdunkler Herkunft spendet seiner verwundeten Seele Trost, denn zuweilen verspürt er ein unbestimmtes Gefühl, welches Reue sein könnte. Reue darüber, sich ver-
kauft zu haben, verkauft an die falsch lächelnde Ausbeuterin, die Puffmutter der Mächtigen, welche gierig nach den Geldbörsen ihrer Opfer schielt, sich im Geheimen die Hände reibend über den guten Schnitt den sie macht.
Er, ihr ergebener Sklave, kreist einer Spinne gleich, die ahnungslosen Opfer ein. Kleben sie erst in seinen fein gesponnenen Fäden aus falschen Versprechungen, wirft er sie ihr zum Fraß vor, glück-
lich der dunklen Göttin sein tägliches Menschenopfer erbracht zu haben.
Das Unglück der rettungslos Verlorenen wischt er aus seinem Gedächtnis, denn seine hervorste-
chendsten Eigenschaften sind seine hündische Ergebenheit gegenüber der Ernährerin und ihren Oberhandlangern, sein nach Bedarf ausschaltbares Gewissen und sein maßloser Fleiß, dem es ge-
lang, sein kaum in Ansätzen vorhandenes Gehirn restlos zu verdrängen.
Nur manchmal, den kurzsichtigen Blick von den Papierbergen hebend, in welchen er jahrein jahr-
aus brütet, glaubt er eine leise Stimme zu hören, sie flüstert ihm zu: „Reiß ihr ein Loch ins Netz, entreiße ihr die Beute, betrüge die Betrügerin, fliehe bevor es zu spät ist!“
Er möchte aufspringen und die Flucht ergreifen, doch … da belohnt ihn die gütige Mutter einer gemütskranken Familie für seine hervorragende Mitarbeit, mit tiefer Rührung, fast ein wenig beschämt, nimmt er die A-Vollmacht in Empfang. Die flüsternde Stimme verstummt schlagartig.
Erhobenen Hauptes, mit vor Stolz geschwellter Brust wendet er sich von der Freiheit ab, schreitet zu den Papierbergen zurück und murmelt: „Es wäre ja schön gewesen, aber …“
Lucrecia
(Bankangestellte, 1981 Ende 20)
Arsbocco’s magazin für lyrik & co., München 1981, 43.