Flusslandschaft 1961
Kinder
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Foto: Heinz Held
Besonders häufig schimpfen Mitbürgerinnen und Mitbürger über die verdorbene, nichtsnutzige Jugend, die rauchend und in blaue „Röhrenhosen“ gezwängt sinnlos herumsteht und „Negermu-
sik“ hört. Am allerschlimmsten sind die verwahrlosten Kinder, aus denen ja „eh nichts werden kann“. Dem widerspricht eine Studie, die indes nur die zur Kenntnis nehmen, die sowieso auf Res-
sentiments verzichten. „Sie sind besser als ihr Ruf – München hat die ‚Schlüsselkinder’ getestet – Den Müttern, die zur Arbeit gehen müssen, wird von der Öffentlichkeit immer wieder angekreidet, dass sie sich nicht genügend um die Erziehung ihrer Kinder kümmern. Es wird die Befürchtung ausgesprochen, dass in diesen sogenannten Schlüsselkindern ein Heer verwahrloster Jugendlicher heranwachse. Wie steht es aber nun in Wirklichkeit mit der geistigen und vor allem mit der charak-
terlichen Entwicklung dieser Kinder, die tagsüber mehr als andere dem Erziehungseinfluss der Mutter entzogen sind? Dass die Pessimisten unrecht haben, zeigt das Ergebnis einer Untersuchung dieser Frage, die in München an mehr als 36.000 Berufsschülern vorgenommen wurde. Bei einem Drittel dieser Jugendlichen steht die Mutter in Arbeit und hat nur abends Zeit, sich um sie zu küm-
mern. Wer erwartet hatte, dass bei diesem Drittel der Anteil an Faulpelzen, Herumtreibern und Widerspenstigen besonders groß ist, wird enttäuscht. Man hat festgestellt, dass der Prozentsatz der Rowdies keineswegs größer ist als in den Familien, wo die Mutter dauernd dahinter steht. Ja, die Berufsschullehrer mussten feststellen, dass diese Schlüsselkinder sich nicht nur durch eine über ihr Alter hinausgehende Selbständigkeit auszeichneten, sondern auch eine besonders hohe Arbeits- und Verantwortungsfreude an den Tag legten. Diese Tugenden kann man beim besten Willen nicht als charakterliche Mängel bezeichnen.“1
(zuletzt geändert am 13.7.2020)
1 westermanns monatshefte 3 vom März 1961, Braunschweig, 52.
12 Metall 3 vom 8. Februar 1961, 14.