Materialien 1980
„Mir macht der 1. Mai Mut“
Für Gewerkschafter hat der 1. Mai 365 Tage
„Mir macht der 1. Mai Mut“, sagt Biggi Sellin, Redaktionssekretärin in einem Münchner Zeitschriftenverlag und Mitglied der IG Druck und Papier. „Bei so einer Demonstration spür’ ich, ich bin nicht alleine. Wir sind viele. Das macht uns stark. Ich weiß, wo ich mich hinwenden muss, wenn ich in Schwierigkeiten bin.“ 1. Mai – Internationaler Tag der Arbeit. Ein Feiertag. Ein Kampftag. Der Tag der Arbeiter, Angestellten und Beamten. 1890 wurde er zum erstenmal in Erinnerung an den erfolgreichen Kampf der amerikanischen Arbeiter für den Acht-Stunden-Tag gefeiert.
1980 ist nicht 1890. Vieles hat die Arbeiterbewegung in diesen neun Jahrzehnten erkämpft: Die Vierzig-Stunden-Woche, mehr Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, besseren Kündigungsschutz – um nur ein paar der wichtigsten Stationen zu nennen.
Doch der 1. Mai hat nicht an Bedeutung verloren.
Eher im Gegenteil. Gerade der 1. Mai 1980 muss zu einer machtvollen Demonstration der Arbeiter, Angestellten und Beamten in München und in der ganzen Bundesrepublik werden. Denn in diesem Jahr wird sich entscheiden, wohin die Reise in unserem Land geht. Es wird sich entscheiden, ob es der Arbeiterbewegung und allen demokratischen Kräften gelingt. eine weitere Rechtsentwicklung zu stoppen. Darum kommt dem 1. Mai 1980 eine besondere Bedeutung zu. Aber nicht nur deshalb.
Soziale Auseinandersetzungen wurden härter
Der Wind bläst uns ins Gesicht. eiskalt. Die sozialen Auseinandersetzungen sind härter geworden. Tabukatalog und Aussperrungen sollen die Gewerkschaften in die Knie zwingen, sie handlungsunfähig machen. Die Unternehmer wollen die Durchsetzung unserer berechtigten Forderungen mit aller Macht verhindern.
Ein Beispiel: Der Kampf der Stahlarbeiter um die 35-Stunden-Woche. Ein anderes: Die Lohnrunden der letzten Jahre. Nach dem Motto: „Vogel friss oder stirb“ werden Lohnleitlinien serviert, die für alle Gewerkschaften als Maßstab gelten sollen, völlig unabhängig von der wirtschaftlichen Situation in den verschiedenen Branchen. Sie durchbrechen heißt für jede Organisation Streik und damit auch Aussperrung.
Aussperrung ist rechtswidrig, sittenwidrig und international geächtet. Doch Recht haben und Recht bekommen, das sind in unserem Land immer noch zwei paar Stiefel. Die Verhandlungen vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel haben deutlich gemacht, mit welchem Urteil wir zu rechnen haben: Es wird Unternehmerwillkür auch für die Zukunft „legalisieren“.
Solidarität ist unsere Kraft
Wir Gewerkschafter werden uns damit nicht abfinden. Wir haben Unternehmerwillkür etwas entgegenzusetzen: unsere Solidarität. Wir werden sie demonstrieren – am 1. Mai und an jedem anderen Tag.
„Die Arbeitskraft ist die einzige Einkommensquelle der Arbeitnehmer“, So steht es im Entwurf des neuen DGB-Grundsatzprogrammes. Wir haben ein Recht auf Arbeit, Männer und Frauen. Die Realität: Rund eine Million registrierte Arbeitslose, dazu 500.000, meist Frauen, in der Stillen Reserve. Und die Prognose für die kommenden Jahre: Weitere 1,5 Millionen Arbeitsplätze werden weg rationalisiert, Dazu drängen die geburtsstarken Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt. Die Folgen liegen auf der Hand. Die Zahl der Arbeitslosen wird steigen, ums doppelte und mehr.
Rationalisierung ja – aber nicht auf unsere Kosten!
Die Gewerkschaften haben sich nie gegen die Einführung neuer Maschinen, neuer Technik, gewandt. Was wir Gewerkschafter nicht widerstandslos hinnehmen, ist, dass die Maschinen und Computer, die von Arbeitnehmern gebaut werden, dazu eingesetzt werden, dass massenhaft Arbeitsplätze vernichtet werden. Deshalb kämpfen die Gewerkschaften für Rationalisierungsschutzabkommen, deshalb brauchen wir die 35-Stunden-Woche, mehr Urlaub usw. Und wir brauchen die Arbeitszeitverkürzung bald und nicht erst in zehn Jahren, wie es die Unternehmer gerne hätten. Denn in zehn Jahren ist die Rationalisierungswelle vorbei. Wir müssen heute für die Arbeitsplätze kämpfen. Dafür demonstrieren wir am 1. Mai.
Allerdings geht es beim Thema Arbeitszeitverkürzung, ob in Form von wöchentlicher Verkürzung, in Form von Urlaub oder Senkung des Rentenalters nicht nur um Arbeitsplätze. Es geht auch darum, dem zunehmendem Leistungsdruck in den Betrieben, ob im gewerblichen oder im Angestelltenbereich, etwas entgegenzusetzen. Wenn wir am 1. Mai auf dem Marienplatz gehen, dann demonstrieren wir nicht nur für unsere berechtigten Forderungen nach Vollbeschäftigung, kürzerer Arbeitszeit und Sicherung des sozialen Besitzstandes. Wir nehmen auch zu allgemein politischen Fragen Stellung. Denn der Wind bläst uns ins Gesicht. Nicht nur im Bereich der Tarifpolitik. Nicht nur Tabukatalog und Aussperrung prägen das politische Klima.
„Mehr Demokratie wagen“
Wir leben in einem Land das Berufsverbote kennt.
Wir leben in einem Land, in dem Verfassungsschutzorgane ungehindert Betriebsräte und Gewerkschafter bespitzeln und überprüfen – ohne dass die Entrüstung Wellen schlägt.
Wir leben in einem Land, in dem neofaschistische Gruppen fast völlig unbehelligt von Polizei und Justiz auftreten und arbeiten dürfen.
Wir leben in einem Land, in dem ein Mann an die Macht strebt, der das Rad der Geschichte zurückdrehen will. Ein Entspannungsgegner, ein kalter Krieger.
Die Gewerkschaften fordern die Fortführung der Entspannungspolitik. Sie fordern Abrüstung statt Aufrüstung.
Deshalb: wenn wir am 1. Mai auf den Marienplatz gehen. dann demonstrieren wir für den Frieden.
1. Mai – Internationaler Tag der Arbeitenden. Ein Tag, an dem wir uns auf unsere Kraft, unsere Solidarität besinnen. Weil wir sie bitter nötig haben. Weil wir nur, weil wir viele sind. die Chance haben. mehr Rechte für alle arbeitenden Menschen durchzusetzen. Ein Feiertag, an dem wir die Erfolge der Arbeiterbewegung, unsere Erfolge gemeinsam feiern.„Wir machen uns Mut“, wie es Biggi Sellin gesagt hat. Denn jeder Gewerkschafter, der am 1. Mai an der Kundgebung auf dem Marienplatz teilnimmt, weiß, dass es damit nicht getan ist. Für Gewerkschafter, für Betriebsräte und Vertrauensleute ist jeder Tag im Jahr ein Kampftag, ein 1. Mai.
RG
wir. Information für Betriebsräte, Personalräte, Vertrauensleute, Jugendvertreter, hg. vom DGB-Kreis München 2/1980, 4 f.