Materialien 1980
„Objektiv“ ist, wer Macht hat
Gerd Heidenreich
(Vg) Seit April dieses Jahres hat der Verfasser des folgenden Beitrags in der Sendereihe des Bayerischen Rundfunks „Das Notizbuch“ Schreibverbot. Nachdem er fast zwölf Jahre regelmäßig publizistisch und redaktionell an dem Vormittagsmagazin mitgearbeitet, die Stundensendung rund hundertzwanzigmal als Moderator betreut und für das Programm mehr als 500 Beiträge verfasst hat, stellte die neue Abteilungsleitung ihn ausdrücklich aus politischen Gründen vor die vollendete Tatsache, dass seine weitere Mitarbeit unerwünscht sei. Heidenreich hat gegen diese Aussperrung Klage eingereicht. Der BR sieht in diesem Fall freilich keinen Akt der Willkür oder der Zensur, sondern einen völlig normalen Vorgang.
aus vorgänge 46 (4/1980): Aspekte zur Zensur
Gemessen am öffentlichen Umgang mit den Begriffen „Objektivität“, „Ausgewogenheit“ und „Meinungspluralität“ ist die publizistische Praxis allem Anschein nach mit unüberwindlicher Schwerfälligkeit behaftet. Denn diese Begriffe werden in Reden, Rundfunkgesetzen und Parteien-Forderungen als jeweils gesicherte, scheinbar exakt umrissene und real umsetzbare Positionen behandelt, wohingegen die tägliche Arbeit an der Publikation erweist, dass es sich dabei um Allgemeinplätze, Leerformeln handelt, deren Gehalt an Anweisung sich nach den jeweils im Medium vorherrschenden Machtverhältnissen notwendigerweise einem semantischen Mimikry unterwirft. Da sie als Richtlinien behauptet, als demokratische Grundforderungen aufgestellt und zu ethischen Kernsätzen der Toleranz hochstilisiert werden, während ihre Definition eben nicht im Grundsätzlichen, sondern nur im jeweils Aktuellen möglich ist, ergab sich für die Medienschaffenden zunächst ein Bedeutungsverfall dieser Formeln, der vorhersehbar war. Denn gerade mit dem Begriff der „Objektivität“ wurde im Journalismus umgegangen, als stünde hinter diesem Wort nicht eine ganze Philosophie-Geschichte, als hätte es nicht bis in die jüngste Gegenwart hinein heftigste Gegensätze bei der Erörterung seiner realen Bedeutung evoziert, als könne man mit der Unbedenklichkeit von Bilderstürmern abseits jeder geistesgeschichtlichen Tradition eine derart strittige Bemühung des Denkens in eine Richtlinie umdeuten, zur Substanz erklären, endlich zur Formulierung eines Kodex bemühen …
Er wird sich nicht ändern, solange die Medien in der Berichterstattung den Politikern, Verbandsvertretern, Repräsentanten und Lobbyisten mehr Raum geben als den von Macht betroffenen Bürgern, ihren Erfahrungen und ihrem Alltag. Die Entwicklung zu dem, was Journalisten als „Hofberichterstattung“ belächeln und nichtsdestoweniger täglich betreiben, lässt sich – wenn überhaupt – dann im öffentlich-rechtlichen System wieder umkehren, wenn die Struktur der Medien demokratisiert, ihre Hierarchie den Parteien entzogen würde. Dann ließe sich auch wieder vernünftig darüber reden, was das als Grundsatz publizistischer Praxis sei: die Objektivität.
vorgänge 155 Heft 3 vom September 2001, 427.