Materialien 1981

Das Vermauern sämtlicher Fenster und Türen

Scheiben klirren und Ihr schreit
Menschen sterben und Ihr schweigt1

Damit die „Neue Heimat“ mit der Modernisierung beginnen kann, denn in einem Jahr sollen die neuen Wohnungen bezugsfertig sein, mit einer Quadratmeter-Kostenmiete von über 20 Mark, die bis jetzt bei 2 bis 2,50 Mark lag – aber die Kosten für die neuen Mieter sollen mit Steuergeldern gesenkt werden -, also, damit die „Neue Heimat“ beginnen kann, räumt die Polizei, und wo geho-belt wird, fallen bekanntlich Späne.

Während der Räumung, gerade noch rechtzeitig, heißt es, ein Polizist sei niedergestochen worden. Sogar die Tagesschau meldet, alle melden: ein Polizist! Viel später, und das erfährt kaum mehr einer, wird dementiert: Ein Ausländer sei bei einer Messerstecherei verletzt worden. Nun, eines ist erreicht: die Straße hat ihr Argument, die Volksseele kocht, wirft von den Balkonen reputierlicher Bürgerhäuser volle Mineralwasserflaschen in die Demonstrantenmenge, Taxifahrer prügeln los und Hausfrauen beim Einkauf. Und jeder Ordnungshüter verkörpert die Rache für seinen Kolle-
gen. Wer inszeniert hier hinter den Kulissen, wer ist Urheber dieser geschickten psychologischen Kriegsführung? Es wird „geräumt“.

Das Interview

Der junge Mann mit Bart sagt, er sei hier, weil in Berlin was los ist, weil hier dufte Typen sind,
mit denen er Sinnvolles arbeiten kann, und weil er keinen Bock mehr drauf hat, sich vom Meister schikanieren zu lassen, sich von irgendeinem sagen zu lassen, wo’s lang geht. Aber hier, da gehört er hin. Da kann er arbeiten, und Instandbesetzen ist vernünftige Arbeit. Der junge Mann heißt Klaus Jürgen Rattay2.

Der Einzug des Siegers, das Fernsehen filmt

Wie dieses ekelerregende, fühllose Wesen im Anzug posiert und Unendliches daherredet: „Hier
ist offensichtlich kaputtbesetzt worden“, angesichts der herumliegenden Trümmer in einem jetzt geräumten Haus, in dem vor der Räumung diese Trümmer nicht. zu sehen waren. — Vorwurfsvoll, moralisierend, scheinheilig: „Wir haben den Besetzern als Ausgleich zehn Häuser angeboten. Die-ses Angebot wurde nicht angenommen.“

Bis auf zwei Zeitungen und einem sehr späten Radiokommentar wird von niemanden, der es WISSEN MÜSSTE, erwähnt, dass die zehn angebotenen Häuser schon lange selbst besetzt sind. Und dann wieder einmal und arrogant vorgebracht dieses Angebot zum Dialog. Aber da höre ich nicht mehr hin.

Eine Kreuzung weiter — die Glotze läuft

Wie dieser Körper unter das Rad gerät, zunächst abprallt von Scheibe und Stoßstange, unter dem Rad jetzt mitgeschleift wird, wie immer mehr erst die Haut herab gezerrt, gerissen, wie dann zuerst die Hand, dann der Arm zerquetscht, der Brustkorb eingedrückt wird, wie das Gesicht abgestoßen, abgeschliffen, bis auf die Augenhöhlen hinein abgerissen unkenntlich gemacht, das alles vierzig Meter lang und sehr schnell, hat ein Amateurfilmer mit seiner Super-Acht aufgenommen. Und das zu sehen am Bildschirm heißt den ganzen Körper verkrampfen. Am liebsten würde ich wegsehen und sehe hin, weil dieser Schmerz nur ein Bruchteil dessen ist, was Klaus Jürgen Rattay ertrug.

Abdrängen, verdrängen

Und dann: Räumung der „Unfallstelle“, Knüppeln, Tränengas, Menschen trauern, werden wieder weggeknüppelt, das Ganze wiederholt sich, Polizistenstiefel zertrampeln Blumen, die über die Spur gestreut sind. Schließlich verdeckt staatlicher Sand das vergossene Blut, schnell weg damit, sauber muss es wieder werden, ordentlich, damit man nichts sehen muss, schneller vergessen kann.

In dem Augenblick, in dem Klaus Jürgen stirbt, saufen Hunderte auf dem Oktoberfest, schunkeln, lallen, brüllen auf ihre groteske Art, dass es ja doch gemütlich sei. Wo bin ich hier eigentlich hinge-
raten?

Zumauern

Sie bieten uns pausenlos ihren Dialog an, und vermeiden dabei geschickt, ihn wirklich zu führen nach dem Motto, je öfter etwas beschworen wird, desto realer scheint es. NEIN! Ich verzichte auf eure Rituale, verzichte auch auf die Vermittler, die ihrer Existenz Sinn zu verleihen suchen, indem sie „verstehen“ und aufeinander zuführen wollen, obwohl doch die Voraussetzungen ungleiche sind. Wie kann der, der sie nicht hat, mit dem, der die Macht hat, an einem Tisch sitzen? Der Gra-
ben ist zu tief. Ich verzichte, verzichte auch auf die ganz im Hier und Jetzt Schwebenden, deren mir entgegengelächelte Harmonie zur Fratze gerinnt. Ich verzichte!

Gemeinsamkeit (bis jetzt zum Teil immer noch von mir vermutet) ist nicht mehr vorhanden. Meine Träume sind anders, mein Leben ist anders, unsere Sprache ist verschieden, ich habe mit euch nichts mehr zu tun.

Als erstes werden sämtliche Türen und Fenster vermauert, damit keine erneute Besetzung möglich ist.

Günther


Münchner Zeitung 15, Oktober/November 1981, 4 f.

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1 Was der Fernsehbericht über den gewaltsamen Tod eines Demonstranten in Berlin bei einem Münchner auslöst.

2 1981 entstand nicht nur in Berlin eine Szene junger Menschen, die leerstehende Häuser besetzten und bewohnten, um der Wohnungsknappheit auf ihre Weise ein Ende zu bereiten. Hans-Jürgen Rattay schloss sich der Berliner Hausbesetzerszene 1980 an, nachdem er zuvor eine Berufsausbildung abgebrochen hatte und von zu Hause ausgerissen war. Im Rahmen einer Demonstration, die gegen die Räumung von acht besetzten Häusern protestierte („Lummerland ist abgebrannt“), geriet der vermummte Rattay am 22. September 1981 auf die Fahrbahn, wurde von einem Bus der Berliner Verkehrs-Gesellschaft (BVG) erfasst und getötet. Einige Hausbesetzer behaupteten nach dem Unfall, er sei von der Polizei auf die Fahrbahn ge-
drängt worden. Diese Aussagen wurden aber im sich anschließenden Gerichtsverfahren nicht bestätigt. Augenzeugen und Betroffene fanden sich zu einem Schweigemarsch zusammen, hielten eine Mahnwache mit Kerzen ab und legten am näch-
sten Tag eine bescheidene Gedenkstätte in der Potsdamer Straße/Ecke Bülowstraße vor einer Commerzbank-Filiale zwi-
schen den Gehwegplatten für ihn an. Auch im Ausland, insbesondere in Amsterdam, kam es in Verbindung mit den Berliner Vorfällen zu militanten Auseinandersetzungen. Der Sänger Heinz Rudolf Kunze widmete Rattay im Jahr 1982 das Lied „Regen in Berlin“, das die niedergeschlagene Stimmung unter den Hausbesetzern nach dem tödlichen Vorfall einfängt.