Materialien 1981
Augenzeuge
Zufällig wurde ich am Samstagabend gegen 21 Uhr Augenzeuge der folgenden Vorfälle außerhalb der Polizeiabsperrung an der Ecke Boosstraße/Eduard-Schmid-Straße:
Angenehm mild
Eine sechsreihige Polizistenkette in der Eduard-Schmid-Straße versperrt meinen Weg. Die Polizi-
sten, ich schätze sie auf einige hundert, tragen schwarze schwere Lederstiefel, Helme mit Leder-
kinnschutz, heruntergeklapptes Kunststoffvisier und riesige rechteckige transparente Schutzschil-
der mit innensteckenden langen Schlagstöcken. Vor der Absperrung stehen ca. hundert, später ca. zweihundert Menschen in leichter Kleidung; es ist angenehm mild.
Es heißt, ein Haus soll besetzt worden sein, und dass sich auch vor diesem Haus Leute versammelt hätten, wobei man allerdings weder das Haus noch diese Leute sehen kann, weil es zu weit weg ist. Hinter der Polizeiabsperrung halten sich zahlreiche Polizisten in Zivil auf; bis auf den Umstand, dass sie offenbar bevorzugt Lederjacken tragen, unterscheiden sie sich äußerlich in nichts von den Leuten, die vor der Polizeiabsperrung stehen.
Blut
Es ist etwa 21.30 Uhr: etwa 50 Meter außerhalb der Polizeiabsperrung in einem offenen erleuchte-
ten Krankenwagen sitzt ein blutüberströmter Junge, ich schätze ihn auf etwa 17 bis 18 Jahre, mit Schlagwunden auf dem Kopf und im Gesicht; unter Weinkrämpfen hören die Umstehenden bruch-
stückweise, er sei von Polizisten in Zivil zusammengeschlagen, in einen Einsatzwagen gezerrt, dort weitergeprügelt worden und er wisse nicht, warum, und ob die wahnsinnig seien …
Zwei der Umstehenden schreiben ihm ihre Namen und Adressen auf, weil sie es teilweise bezeugen können, jemand will einen Fotoapparat holen, um den Jungen zu fotografieren; der Krankenwa-
genfahrer will den Jungen ausladen und wegfahren, er will da nicht hineingezogen werden, der Krankenwagen bleibt, der Junge wird fotografiert.
Ohnmächtige Empörung
Es ist etwa 22.30 Uhr: innerhalb der Absperrung wird aus der Richtung, in der die anderen Leute vor dem Haus stehen sollen, ein junger Mann, ich schätze etwa 21 Jahre, mit auf den Rücken ge-
drehtem Arm auf uns zu geführt; offenbar soll er durch die Absperrung nach außen geschoben werden; etwa zehn Meter vor der Absperrung (innerhalb) springt ein Polizist in Zivil mit Pullover von hinten an diesen Mann heran, reißt ihn an beiden Ohren oder dreht sie und stößt den schrei-
enden stolpernden Mann von hinten in die Polizeiabsperrung hinein und durch diese hindurch. In der Gasse fällt der Mann hin, steht wieder auf, dreht sich um, erhält einen Faustschlag in den Ma-
gen, fällt rückwärts wieder um mit dem Schädel aufs Pflaster. Er wird von Außenstehenden he-
rausgezogen, die Polizeimauer schließt sich wieder.
Der ohnmächtige Empörungsschrei der unmittelbaren Augenzeugen dieses Vorgangs (oder ein ungehörtes Kommando) lässt die Polizisten ihre Schilder hochreißen; die Leute weichen zurück, einige setzen sich auf die Straße.
Kurze Zeit später wird aus der gleichen Richtung wie zuvor ein sitzender Mann rückwärts auf die Absperrung zu herangeschleift; kurz vor Erreichen der Polizeikette springt wieder ein Polizist in Zivil dazu (ist es ein anderer wie vorhin, ist es derselbe, ich kann es nicht mehr unterscheiden, irgendwie sehen sie alle gleich aus) und tritt unmittelbar hinter der Polizeikette, so dass es nur wenige Leute überhaupt sehen können, dem am Boden sitzenden Mann zwischen die Beine in den Unterleib. Aus der sich öffnenden Gasse in der Polizeikette wird der Mann von Umstehenden he-
rausgezogen. Die Kette schließt sich wieder, wieder ein dünner Schrei von den paar Leuten, die das gesehen haben, wieder geht die Schilderwand hoch. Mein Appell an die Uniformierten, diesen Schläger zu identifizieren, damit ich ihn anzeigen kann, bewirkt nicht einmal ein mitleidiges Lä-
cheln.
Warum, warum, warum?
Mir ist schlecht, ich gehe, ich habe von der Hausbesetzung und von der Räumung nichts gesehen; ich habe nicht einen Demonstranten gesehen; ich habe keinen Krawallmacher oder Provokateur gesehen, ich habe keine Drohgebärde von den Leuten vor der Absperrung gesehen; ich habe nur drei Opfer gesehen und eine unerträgliche Provokation empfunden. Und ich habe Antworten erhal-
ten, die mir Angst machen.
Heute lese ich, dass das Haus seit sechs Jahren leer steht, verfällt und der Besitzer es auch nicht mehr renovieren will. Ich lese, dass fünf der sechs 22- bis 15jährigen „Männer“, die in diesem Haus waren, das Haus mit Schädelverletzungen, Nasenbeinbrüchen o.ä. verlassen haben. Ich lese, dass der Polizeidirektor Schmidt hierzu sagt, dass auf vage Behauptungen der Besetzer hin nicht ermit-
telt würde. Gleichzeitig lese ich, dass die Strafanzeige vorbereitet, der Staatsanwalt am Ort des Ge-
schehens und auch die Richter einsatzbereit waren; und ich lese, dass der zusammengeschlagene Junge Joachim S. heißt und Polizistensohn ist, und dass der Vater Anzeige erstatten will. Muss ich nun auch um den Vater Angst haben?
Dr. Rolf Wilhelms, Patentanwalt, München 80
Münchner Zeitung 15, Oktober/November 1981, 1f.