Flusslandschaft 1961

Lebensart

„Selbstbedienung schwierig – METALL brachte kürzlich eine Notiz über die Wehen der Selbstbe-dienung. Darf ich hieran noch ein paar Sätze anhängen? Ich habe einmal einen solchen Zauberla-
den betreten. Einmal – und nie wieder. Ich wollte damals eine Tube Senf haben. Ich wollte mir diese aus dem Regal rausholen. Da erschien ein blonder Engel und sprach zu mir: ‚Kehrt marsch-marsch! Zum Eingang zurück! Einen Korb nehmen! Steht ja hier deutlich genug geschrieben.’ Die Vorstellung eines Korbes, wo fünftausend solcher Tuben rein gingen … eines Tübchens, das Lust hat, schon unten zwischen den Drähten durchzupurzeln, und ich, der da fromm Schlange steht und wartet, bis sich die zwanzig Damen vor mir der Überprüfung ihrer vollgepfropften Körbe unterzo-
gen und ihre Rechnungen bezahlt haben werden, nein, diese Vorstellung machte mich sauer und bös und mürbe und rebellisch. Ich machte mir den Eingang zum Ausgang. Ich kaufte meinen Senf nebenan in so einem Käfig, wo die Inhaberin, wenn sie sich umdrehen will, erst raus aufs Trottoir muss, dann die Drehung verwirklicht und sich dann wieder in den Laden zwischen Pult und Regal reinschiebt. Ein Griff — und ich hatte meinen Senf. Ein zweiter Griff — und sie hatte ihr Geld. — L. Mayer, München“1

Standesbewusstsein und eine zutiefst konservative Grundhaltung eint die habilitierte Münchner Ärzteschaft an Universität und Kliniken, die dort ihre Dynastien mit Hilfe politischer Einflussnah-
men verteidigt und ausbaut. Kommt ein Quereinsteiger und beansprucht auf Grund seiner eigenen Leistungen eine Position, wird er auf vielfältige Weise ausgegrenzt.2

In einer demokratisch verfassten Gesellschaft übt die öffentliche Meinung eine unerlässliche Kon-
trollfunktion aus. Nur: Wo sind Meinung und Wahrheit kongruent? Meinung entsteht nicht durch sachliche Einsicht, sondern bleibt Ausfluss geltender Autorität. Öffentliche Meinung tendiert zum Wahn. „Die Verdinglichung des Bewusstseins, das zur Dingwelt überläuft, vor ihr kapituliert, ihr sich gleichmacht; die verzweifelte Anpassung dessen, der die Kälte und Übergewalt der Welt anders nicht zu bestehen vermag, als indem er sie womöglich überbietet, gründet in der verding-
lichten, der Unmittelbarkeit menschlicher Beziehungen entäußerten, vom abstrakten Prinzip des Tausches beherrschten Welt. Gibt es wirklich kein richtiges Leben im falschen, so kann es eigent-
lich auch kein richtiges Bewusstsein darin geben. Nur real, nicht durch ihre intellektuelle Berichti-
gung allein wäre über die falsche Meinung hinauszukommen. Ein Bewusstsein, das heute und hier jener Verhärtung der Meinung ganz entsagte, die das pathische Prinzip ist, wäre ebenso problema-
tisch wie jene Verhärtung selbst. Es verfiele dem flüchtigen strukturlosen Wechsel von Anschauung zu Anschauung, jenem molluskenhaften Unwesen, das an manchen sogenannten feinsinnigen Menschen sich beobachten lässt, und das zur Synthesis der Einsicht gar nicht erst gelangt, die dann im verdinglichten Bewusstsein einfriert.“3 (Adorno verlas „Meinung Wahn Gesellschaft“ als Festvortrag auf der Jahreshauptversammlung 1961 der „Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht“ in Baden-Baden aus Anlass des siebzigjährigen Bestehens der Gesellschaft.)

Wieso lassen wir uns so viel bieten, wieso verstehen wir nicht, wie die Gesetze im Machtgefüge funktionieren? Diese Gesellschaft firmiert unter der großen Überschrift „Freiheit“, tatsächlich ist die Freiheit der einen die Unfreiheit der anderen und letztere scheinen dies klaglos zu akzeptieren. Rolf Gramke macht sich dazu seine Gedanken.4


1 Metall 11 vom 14. Juni 1961, 12.

2 Siehe „Wenn ein Außenseiter Chefarzt wird“.

3 Theodor W. Adorno: „Meinung Wahn Gesellschaft“ in Ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt am Main 1963, 147 – 172 bzw. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 10.2, 591 f.

4 Siehe „Wie frei ist unsere Freiheit?“ von Rolf Gramke.