Materialien 1981

Vielleicht gehörte es auch zu den Spätfolgen von '68 ...

dass bedrohte Mieter sich rechtzeitig zusammengeschlossen und kollektiv gehandelt haben, anstatt sich einzeln in Isolation und Verzweiflung treiben zu lassen.

Es waren, ganz konkret in dem Haus Türkenstraße 68 a. Spät-68er, die die Initialzündung gegeben haben für die Gründung einer Mietergemeinschaft. Da war der Filmemacher Verhaag, die Malerin und Schriftstellerin Anita Albus, da waren ein paar ältere, alleinstehende Damen und ein älterer Herr, der selber aus der Baubranche kam und sehr kenntnisreich war. Diese Mietergemeinschaft hat nun wirklich alles durchgemacht, was man auf dem Sektor Wohnungsmarkt durchmachen kann.

Sie wurden eingeschüchtert mit Anwaltschreiben und Kündigungen. Es gab auf einmal Wasser-
schäden, es tropfte durch das Dach, gerade ein paar Tage vor Weihnachten. Man hat auf einen Schlag alle Fenster im Treppenhaus ausgehängt, damit es recht kalt würde. Man hat die Haustür ausgehängt, damit die Penner ins Haus kämen. Das taten sie auch und pinkelten hinein. Man hat die Kellerfenster ausgehängt, damit es recht feucht würde. Das tat es auch. Gleichzeitig erfroren die Kartoffeln. Man hat mit Bauarbeiten angefangen, die sich über Jahre zogen. Man hat vor dem Ein-
gang einen See geschaffen, dass das Haus lange Zeit nur über eine Holzbrücke zu erreichen war – wie in Venedig bei Überschwemmungen. Und immer wieder gab’s Prozesse: mal wegen Mieterer-
höhung, mal wegen unzulässiger Untervermietung oder Tierhaltung, mal wegen Kündigung.

Dann haben die Mieter große Transparente aufgehängt: >Wir bleiben hier!<. Damit die Kaufinter-
essenten gleich merkten, dass das keine Baustelle war, obwohl es so ausschaute, sondern dass das ein bewohntes Haus war, aus dem die Mieter sich nicht vertreiben lassen wollten. Dann haben die Spekulanten gegen diese Transparente prozessiert wegen Verunstaltung der Fassade.

Dann haben wir, ich war der Anwalt dieser Mietergemeinschaften, einen Musterprozess geführt und durchgesetzt, dass derartige Plakate zulässig sind. Dass es zum Wohnen gehört, Kaufinteres-
senten mitzuteilen, dass man gewillt ist, weiter dort zu bleiben. Seitdem sind solche Plakate und Transparente zum Kennzeichen aller Spekulationshäuser geworden, in denen Mieter sich wehren. Uns ist es jedenfalls gelungen, die Vertreibung der Mieter zu verhindern. Nicht die Schikanen. Ein paar ältere Damen sind da tatsächlich herausgestorben …

Christian Ude


Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 674 f.

Überraschung

Jahr: 1981
Bereich: Stadtviertel

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