Materialien 1982
Dann habe ich begonnen, Fotos zu machen ...
Meine Kamera ist schlecht, eine kleine Automatikbox. Dennoch verspreche ich mir von den Fotos mehr Aufschluss als von der Strichliste. Der erste Film ist noch nicht entwickelt, aber ich bin sehr gespannt. Obwohl ich das Vertrauen in die Strichliste verloren habe, führe ich sie fort, wenigstens so lange, bis ich sicher weiß, dass auch in Kombination mit den Fotos keine Erkenntnisse mit ihrer Hilfe zu gewinnen sind.
Erst einmal habe ich einen Polizisten ganz aus der Nähe gesehen. Das war, glaube ich, noch vor Be-
ginn der Listenführung, also Ende März. Auch dieser Beamte hat einen schwarzen Schnauzbart ge-
habt. Er hat mich angeschrieen, weil ich bei Rot schräg über die große Kreuzung vor dem Revier gelaufen bin. Da ich schon auf der anderen Straßenseite war, musste ich, um befehlsgemäß zu ihm zu kommen, noch einmal über Rot laufen. Er hat mich angebrüllt wie einen Schuljungen. Er war vielleicht zehn Jahre jünger als ich, also 18. Erst als er verlangt hat, ich solle mich ausweisen, habe ich eine Panik bekommen; vorher war ich zu verdattert. Ich habe meinen Ausweis nicht dabei ge-
habt, gottseidank. Ich bin nämlich da, wo ich wohne, gegenüber vom Polizeirevier, polizeilich nicht angemeldet, aus guten Gründen. Dann hat er mich noch einmal angebrüllt, wegen des fehlenden Ausweises. Ich habe nichts gesagt. Ich habe nur sein Gesicht angeschaut. Die Schneidezähne waren sehr schadhaft, kariös, vielleicht hat auch ein Zahn gefehlt. In mir hat es gekocht, aber ich habe mich beherrscht. Zum Schluss hat er gesagt: »Mensch, schaun Sie, dass Sie Land gewinnen!« Zu-
hause habe ich, nach dem Abflauen der ersten Erregung, den Vorfall eher positiv gewertet: Würde man mich insgeheim beobachten, würde man eine derart offene Attacke vermeiden, um mich nicht misstrauisch zu machen. Fährt man mich so an, kann ich daraus schließen, dass man mich behan-
delt wie jeden anderen auch. Mögliche Finte: Man will, dass ich genau diese beruhigende Schluss-
folgerung ziehe. Halte eine derartige Finte für unwahrscheinlich. Will dennoch noch vorsichtiger werden, vor allem auf der Straße. Habe die Beobachtung vom Fenster aus intensiviert. Deshalb stehe ich auch heute hier, trotz granitschwerer Müdigkeit. Ich werde heute noch die Bilder des Dossiers beschriften. Bis zwölf bleibe ich noch am Fenster, es ist kurz vor zwölf. Der Sekunden-
zeiger meiner Uhr rückt nur so langsam, wie zögernd, weiter …
Rainald Goetz, Das Polizeirevier (Auszug), in Michael Rutschky (Hg.), 1982. Ein Jahresbericht, Frankfurt am Main 1983, 223.