Materialien 1982
Frau Stanglmeier
Hinter dem Schaufenster des Krämerladens stehen die Attrappen der großen Marken verblichen und krumm zwischen toten Wespen. Die Kramerin trägt auf ihrem Kopf ein ungeheures Schneckenhaus. Jeden Tag muss sie eine Stunde eher aufstehn, damit sie ihre langen grauen Haare zu einem Schneckenhaus zusammenstecken kann. Und darunter schaut sie hervor, mit ihren Knopfaugen, hört mit ihren verwelkten Ohren die Kundschaft ab; an ihren Armen hängen zwei tiefgefrorene Hände, mit denen sie die verlangten Waren aus dem Regal fingert. Dabei sagt sie oft »Lotterbuben sind das, lauter Lotterbuben«. Von wem die Rede ist, weiß Frau Katharina Stanglmeier genau.
Manche meinen, dass mit den Lotterbuben die Besitzer der großen Supermärkte gemeint sind, denn die drücken die Frau Stanglmeier immer tiefer unter ihr Schneckenhaus.’ Mit diesen Lotterbuben kann sie nicht mithalten. Sie behält den Laden nur, damit sie die dazugehörende kleine Wohnung nicht verliert. Die Wohnung besteht aus zwei dunklen Kammern mit vergitterten Fenstern, die auf eine Hofmauer starren; und aus einem Klo, das im Winter so kalt ist, dass oft das Wasser in der Kloschüssel einfriert.
Seit ihr einziger Sohn gefallen und ihr Mann verstorben ist, lebt die Kramerin mit Hunden zusammen. Zur Zeit hat sie einen kleinen Schnauzer, den sie Fritzi getauft hat. Der Fritzi liegt oberhalb der Treppe auf seinem Liegekissen und bewacht mit seinen schläfrigen Hundeaugen die Regale. Wenn die Kramerin nicht im Laden ist, wagt kein Kunde in ein Regal zu greifen, denn da würde der Fritzi ganz scharf knurren und bellen.
Einmal hat die Frau Stanglmeier nachgerechnet, wie oft sie schon die kleine Treppe zwischen Wohnung und Laden herauf und hinunter gestiegen ist. Das war im Lauf der 47 Jahre ca. eineinhalb Millionen mal. Und was ist ihr von dem Rauf- und Runtersteigen geblieben? Ein Rheumatismus in den Knien, eine vergitterte Wohnung, ein kleiner Hund und ein paar Notgroschen auf dem Postsparbuch.
Für die Frau Stanglmeier heißen alle Unguten »Lotterbuben«. Ja, die Lotterbuben hatten damals den Krieg angefangen, aus dem ihr Erwin nicht mehr heimgekommen ist; wegen den Lotterbuben hatte sie seinerzeit das zerbombte Ladenfenster mit Brettern vernageln müssen; die Lotterbuben haben ihr die paar ersparten Märker entwertet; und die Lotterbuben locken ihr jetzt die Kundschaft weg. Nur ein paar alte Stammkunden blieben ihr treu und kaufen weiter bei der Frau Stanglmeier ein, auch wenn sie für manches etwas mehr bezahlen müssen, weil die Kramerin ihre Waren nicht so günstig und im großen bekommen kann wie die Lotterbuben.
Dafür erzählt aber die Kramerin ihrer Kundschaft, dass der alte Liedl gestorben ist, dass er acht Tage tot in seiner Wohnung gelegen hat, bis die Nachbarin die Polizei kommen ließ. Dafür unterrichtet die Kramerin ihre Kundschaft darüber, dass die Lotterbuben auf dem Grundstück der Gärtnerei Rupfer Eigentumswohnungen bauen lassen, die so teuer sind, dass eine große Wohnung fast 700.000 Mark kostet. Wer kann denn eine solche Wohnung bezahlen? Natürlich nur wieder Lotterbuben, die aus irgendwelchen Lottergeschäften so viel Geld erschwindelt haben.
Umgekehrt kann aber auch die Frau Griebl, die gerade ein Päckchen Waschpulver kauft, der Kramerin ihr Herz ausschütten, kann der Frau Stanglmeier ausführlich erzählen, dass bei ihrer Tochter was Kleines kommt . und dass sie eine Wohnung sucht mit einer erschwinglichen Miete; aber nirgends sei eine zu finden. Was die heute Miete verlangen, meint Frau Griebl, das kriegt ja meine Inge nicht einmal Stempelgeld, wo sie doch schon so lange arbeitslos ist.
Die Kramerin streichelt ihren Fritzi und meint, dass auch an der Arbeitslosigkeit die Lotterbuben schuld seien, weil die immer noch mehr Diridari wollen.
Die Kramerin hält ihren Kopf etwas schief, holt ein paar Haarnadeln aus der Schürzentasche und steckt sie in ihr Schneckenhaus.
»Jaja«, sagt Frau Griebl und legt ihre fleischige Hand auf den Zahlteller, »die Großen können grad machen was wolln.«
Frau Griebl wartet ein bisschen mit dem Bezahlen, denn sie hat gemerkt, dass die Frau Stanglmeier in letzter Zeit manchmal das Kassieren vergisst. Aber heute verlangt die Kramerin das Geld für das Päckchen Waschpulver, trotz der vielen Lotterbuben, von denen sie der Frau Griebl erzählt hat.
Artur Troppmann, Der Xaver. Münchner Typen und Originale, Dortmund 1986, 13 ff.