Materialien 1982

München braucht verwertbaren Wohnraum

Das sind so die kleinen Sünden, die man sich jetzt öffentlich zubilligt. Wir sind zur feinen Adresse geworden – wenn auch laut. Dass Schwabing einmal „schönste Tochter“ war, taugt real nur noch für Makler und Festschriftautoren. Der Wert der Tochter hat inzwischen auch seinen Preis.

Beim Gespräch um den Rest dieses Wertes meint ein Bauamt-Mann, wir hätten dort ein Idyll gerettet, kein Denkmal. Richtig, war’s uns auch wert. Hätte sich der Stadtbaurat seines großen Vorgängers erinnert, der um die Jahrhundertwende das Nikolaikircherl vor dem Münchner Stadtrat retten wollte mit seinem frühen Vorläufer der Schwabinger Bürgerinitiativen, er hätte sich leichter getan. München tut sich offensichtlich schwer, aus der Schwabinger Geschichte zu lernen. Auch wenn es im Falle dieser Idyllen nicht so ist, dass zwei Schwabinger drei Meinungen haben – genügt ihnen meist eine.

In der Stadtbaugeschichte Schwabings weiter oben habe ich fast etwas unterschlagen: die Adelssitze hinterließen freie Flächen, die Villen und Gärten östlich der Leopoldstraße, Hinterlassenschaften einer spätfeudalen Gesellschaft, die wir heut noch schätzen, die wir gern erhalten und – soweit nicht wirklich bewohnt – alle begehen und benutzen wollen. Hoffentlich hilft uns da dann wenigstens, dass der Baron Gohren das Baronbergl und seine Wiese für die Schwabinger Kinder gestiftet hat, die da gewiss keine Tiefgarage als Nachtlokalbesucher brauchen. Aber das lernen die Kinder ja auch nicht in der Schwabinger Schule des Theodor Fischer, sogar solcher Geist wird aus einem Schulhaus recht schnell verweht.

Später, in der Hochschul’, lernen sie’s dann. Und machen das Gegenteil. Verbauen die Isarhangkante mit Standard-Bauten, verwerten ein Zeichner-Häusl am Schwabinger Bach zur Luxusresidenz, verhübschen die Grün- und Freiflächen mit kleinkariertem Kitsch, betonieren den Wasserfall beim alten Götz zum aseptischen Gerinne und markieren das Hochufer mit den Höhepunkten unserer Versicherungs- und Rückversicherungsgesellschaft. Nur spitzfindige Bauordnungslektüre und raffinierte Stiftungsurkunden sind unsere Rettungsanker gegen die Vernichtung der historischen und topografischen Tatsachen, erhalten uns „nicht-lnnenstadtrand-typische Anomalien“ mit dem Pferdemist einer feinen Reiterschaft als letzte Relikte eines Schwabinger Tierpark-, Reitschul- und Veterinärgebietes, ehemals bestens eingeordnet zwischen Häuserquartier und Auenlandschaft.

Dafür gilt alle zentralstädtische Sorge unserer Erschließung – für den ersten, weil lukrativsten und billigsten U-Bahn-Ast haben wir immer noch dankbar zu sein – und den rastlosen Bemühungen um eine „maßvolle“ Verwertung unserer Münchner, Schwabinger Freiheit. Als ungeschützter Aufenthaltsort ist uns das nicht zuzumuten, sagt man im Hoch- und Rathaus. Vielleicht ist’s uns auch nach immerhin zwei planerischen Todsünden an diesem Platz (und da gibt’s einen feinen Unterschied zu den oben zitierten kleinen Sünden) auch schwer zuzugeben: das ist unsere Freiheit, dort haben wir die Freiheit, auch mal großstädtischen Fehlern durch unser da-Sein zu begegnen.

Ist es wirklich so schwer zu begreifen, dass in Schwabing – und da sind wir immer noch ganz einfache, normale Bewohner und Benutzer – Städtebau nichts anderes ist als zur-Verfügung-Stellen von Raum, von Raum für die Leute am Ort, dass Demokratie Abstimmung der Bevölkerung ist, nicht Abstimmung von Lobbyisten. Zum Städtebau in Schwabing: Der so um unser Wohl besorgte Stadtrat sollte uns öfter über das befinden lassen, was unser Bier ist. Dann schlucken wir das Münchner Bier vielleicht auch wieder lieber.


Rudi Then Bergh: Städtebau. In: 1200 Jahre Schwabing. Geschichte und Geschichten eines berühmten Stadtviertels, München-Gräfelfing 1982, 175.

Überraschung

Jahr: 1982
Bereich: Stadtviertel

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