Materialien 1984

Frieden ist, wenn keiner irgendwo hingeht

— Die Friedensbewegung beim Wort genommen

Noch rechtzeitig vor den »größten und vielfältigsten Demonstrationen, die unser Land jemals erlebt und gesehen hat«, erschien im September 1983 bei Rowohlt Das Aktionsbuch. Für Frieden — Gegen Raketen. Wer bis dahin der Parole »Frieden schaffen ohne Waffen« noch immer keine Handlungsanweisung entlocken und sich zwischen »Friedensfest« und »Die-In« auch nicht entscheiden konnte, war nun aller Sorge ledig: Beflissene Buchhalter hatten die organisationsfähigen Anteile der herrschenden Phantasien inventarisiert (»So produziert man landauf, landab Ideen, die zum Teil in Aktionen münden«, S. 29) und präsentierten alle bis dahin bekannten Spielformen des »Widerstands« nach dem Alphabet in einem »Aktionskatalog der Bewegung«, um »dem Leser einen guten Überblick darüber zu verschaffen, welche der vorgeschlagenen Aktionen denn für ihn selbst am ehesten einen Anreiz zum Mitmachen bieten« (110).

Für 6,80 DM war guter Rat allerdings teuer. Wer sich eine» bleibende Erinnerung« (56) an die Friedenswoche durch das Aufbauen eines Plakatständers sichern wollte, wurde unter dem Stichwort »Info-Stand« darüber belehrt, »dass Info-Stand und Plakatständer genehmigt werden müssen. Dran denken, rechtzeitig beantragen« (67). Wem die Friedenstage im Oktober gerade recht kamen, um nach der Sommerpause etwas abzuspecken und so das Nützliche mit dem Angenehmen einer von der Öffentlichkeit gierig beobachteten politischen Aktion zu verbinden, konnte sich unter dem Stichwort »Fasten« die nötigen Anweisungen holen: »Fasten verlangt Planung. Selbstverständlich, dass die Öffentlichkeit rechtzeitig über Ort und Zeit der Aktion informiert werden sollte. Aber auch das Zusammenleben der Fastenteilnehmer erfordert die rechtzeitige Bereitstellung von Dingen wie Büchern, Zeitungen (möglichst zum Thema), Papierrollen, Plakaten, Filzstiften, Musikinstrumenten, Liedertexten, friedenspädagogischen Spielen, audiovisuellen Medien, Material für kreatives Gestalten (Kartons, Kerzen, Farben, Schminke), Tassen, Gläsern zum Trinken, Kocher, Tee, Mineralwasser, Obst- und Gemüsesäften« (48).

An eins hatten die Beschreiber der »organisatorischen Schwerstleistungen« (57) damals allerdings noch nicht gedacht, nämlich an das Ende des »Friedenstaumels« (29), der den gefühlvollen feuchten Händen angesichts der Realität ebenso schnell verging, wie er gekommen war. Sonst hätten sie unter dem Buchstaben» H« schon im September vorsorglich das Stichwort »Henkersmahlzeit« aufgenommen und Rezepte für Friedensbraten oder Hinweise auf Tabakmarken für die letzte Friedenszigarette abgedruckt.

Aber der deutsche Organisationswahn kennt kein vergessenes Stichwort, kennt kein offenes Ende. Ihm ist erst wohl, wenn die Reihen der »Menschenketten« fest geschlossen sind (»Kettenschlusszeit umstritten. Wir werden, wenn es sein muss, die Reihen noch viel länger schließen«, Aktionsbüro Herbst 1983, >Süddeutsche Herbstpost<, Nr. 5) und er zukünftigen Historikern auch den Tag und die Stunde aktenkundig machen kann, an denen der Widerstand der Deutschen in der »Militärkolonie Amerikas« (D. Sölle, >Der Spiegel<, 10. Oktober 1983, Nr. 48) sein Ende fand. Denn dass die Friedensbewegung ihr eigenes Scheitern in die »sehr vielfältige Palette von Aktionsideen« ( Aktionsbuch, 110) aufnehmen und zu einem artig inszenierten Spektakel nutzen würde, stand zu erwarten. Und so setzte sich zum Schluss noch einmal jener Masochismus durch, der schon ein Vergnügen daran fand, seine Klientel den Herrschenden in der Form von »Menschenteppichen« zu Füßen zu legen. Denn an eben dem Tag, an dem das Verteidigungsministerium vor der Bundespressekonferenz in Bonn mitteilte, dass die »ersten US-Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II in der Bundesrepublik zum Jahresende einsatzbereit« seien, bat ein Konsortium von »Ärzten, Juristen, Lehrern, Seelsorgern, Architekten und Journalisten« zu einer geflissentlichen Teilnahme an einer »Henkersmahlzeit am 17. Dezember, von 15.30 bis 17 Uhr an der Hauptwache«. Gespeist werden sollte »an einer 50 Meter langen, feierlich gedeckten Tafel« (>Frankfurter Rundschau<, 17. Dezember 1983): Damit war die Lücke des Aktionsbuches, dem zu dem Buchstaben »H« im September noch nichts eingefallen war, geschlossen.

Selbstverständlich meinten die Vertreter der neuen großen Kleinbourgeoisie die »Grande bouffe« nur im charmanten Sinne einer Warnung vor der Bombe. Sie dachten bei der Wortwahl für ihre Aktion nicht an die Mahlzeit von Millionen, die von deutschen Henkern zu Tode gebracht wurden. Deren letztes Souper fand in Lagern oder Gefängnissen und kaum unter freiem Himmel an feierlich gedeckten Tafeln statt, wenn es denn überhaupt stattfand, und die Opfer nicht hungrig und nackend ihren letzten Gang in Mordräume antreten mussten, die als Duschkabinen ausgewiesen waren. Aber solche Hinweise auf die Aura eines Wortes hätten die Veranstalter mit Entrüstung von sich gewiesen, zu Recht. Denn in ihrem Bewusstsein gibt es keinen historischen Zusammenhang zwischen den Aktionsformen der Väter, Großväter und ihren eigenen. Sie haben eben jene Sprache geduldet oder zum Markenzeichen gemacht, der der Wunsch nach herrscherlicher Ordnung auf der Stirn geschrieben steht und die geflissentlich jedes Quentchen an anarchischer Lust und lebendiger Sinnlichkeit versteinert hat. Wer von »flächendeckenden Kundgebungen« und »Lebenslagern« schwärmt, wen bei den Wörtern »Menschenkette« und »Friedensaktie« keine Gänsehaut überläuft, wer sich bei dem Wort »Mahnwache« an nichts Böses erinnert, dessen Phantasie ist eben in jene Bahnen gelenkt worden, die die Mächtigen für den leichten Gang der Dinge vorbereitet haben. Damit sie zum Schluß in den begeisterten Ton verfallen können, der den Stolz des Siegers im Schmelz des Lobes für den Verlierer versteckt. Wie wäre sonst die Bemerkung des Stuttgarter Innenministers Eyrich zu verstehen, »die >Linie der Vernunft< habe sich durch das disziplinierte Verhalten in der Friedensbewegung und das umsichtige Verhalten der Polizei Baden-Württembergs bewährt« (FAZ, 24. Oktober 1984)?

Unsre Hände sind leer,
Die Vernunft ist das Gewehr,
Und die Leute verstehn unsere Sprache. (Aktionsbuch, 25)

Diese Verse kommen nicht aus Ministermund, sondern aus dem Volksmund der Bewegung:

Wir brauchen keine Generale
Keine Bunker, kein Führerhauptquartier,
Der Lehrer wird zum Feldmarschalle,
Die Mütter die werden Offizier.

Natürlich wird diese Sprache verstanden, denn sie wünscht nur dasjenige in die ewige Zukunft verlängert, was immer schon war, Befehlsnotstand bei den Erziehern der Nation, den Lehrerfeldmarschällen und Offiziersmüttern.

Sprachliche Geschmacklosigkeiten sind nur das ästhetische Signal für eine verwirrte Vernunft, die des Glaubens war, sie könne der gesellschaftlichen Pathologie durch politische Ziellosigkeit, Stimmungsmache und sanftes Paktieren mit den Hütern der Regelsysteme beikommen. Es sind die Wörter und Sätze, die die heillosen Zustände und das bereits im Anfang beschlossene Ende der Friedensbewegung ans Licht bringen. Denn die Parolen, in denen Hunderttausende ihren politischen Willen ausgedrückt fanden, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als Worthülsen, denen eben jene Vorstellungskraft fehlte, die von den Friedensbewegern doch so oft und heftig als Waffe berufen wurde (»dass auch die Phantasie eine wirksame Waffe ist — die einzige, die die Bewegung als solche akzeptieren kann«, Aktionsbuch, 29) und die dem Leithammel aller Parolen in leuchtenden Buchstaben auf der Stirn geschrieben stand: »Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin«.

Ein Satz mit einem zupackenden Auftakt. Denn die Aufforderung, »Stell dir vor«, ist das beste Mittel aus dem Arsenal überzeugungsmächtiger Rhetorik, eine Formel, deren häufigen Gebrauch schon Cicero empfahl, weil sie den Zuhörer anregt, sich affektiv von Bildern ergreifen zu lassen, die der Redner mit Worten vor seinem inneren Auge gegenwärtig machen will. »Stell dir vor«: Mit dieser Einladung wird der Vorhang vor der Bühne weggezogen, auf der sich die Dramatik dessen entfaltet, was wir sehen und empfinden sollen, nämlich Angst und Schrecken angesichts der Katastrophen, die uns bedrohen.

Der Hauptteil des Satzes erfüllt aber gerade nicht das, wozu sein Anfang einlädt. Unser inneres Auge blickt auf eine Bühne, auf der keine Greuelszenen aus den Schlachten um Stalingrad oder Pnom-Penh erscheinen, die sich nicht mit Soldaten bevölkert, sondern leer bleibt bis auf ein Spruchband im Hintergrund, auf dem steht: »Es ist Krieg«.

So bleibt unserer Anschauung nur ein Begriff übrig, den die Träger von Latzhosen und Rohledersandalen nicht mehr aus eigenem Erleben kennen, der ihnen nur vermittelt begegnet als Wort für Ereignisse, die woanders stattfinden, jedenfalls nicht zu Hause oder dort, wo deutsche Friedenskinder ihren Urlaub verbringen. Dieser Krieg kennt kein Entsetzen, er ist weder ausgebrochen, noch angezettelt worden, schon gar nicht von uns, sondern ein Zustand — »er ist«.

Aber diese Definition weiß es schon zu genau, denn »er« ist nicht einmal, sondern »es« ist, dieses verräterische »es«, das immer dann als Subjekt der Geschichte auftritt, wenn über Herkunft und Ziel, über Ort und Zeit nichts Genaues bekannt ist. Und so bleibt für den erwartungsvoll schauenden Geist der Krieg dort, wo er eben ist, im Überall und Nirgendwo, und wir bleiben, wo wir sind, ich vermute zu Hause, hinter dem Fernsehschirm, Tagesschau, anschließend Dallas.

»Und keiner geht hin«. Vielleicht vermittelt der letzte Teil des Satzes einen Schimmer von Anschaulichkeit, da bleiben die Straßen so leer wie die Fußgängerzonen der Innenstädte nach Geschäftsschluss, und selbst der »High Noon« findet »Fünf: vor Zwölf« keinen Zuschauer mehr. Im Bild dieser Leere aber kommt die unbewusste Vorstellung ans Licht, die die erstaunliche Karriere dieser Parole getragen hat, die die Friedensbewegung aber beharrlich abwehren musste, weil sie ihrem Selbstbild im Wege gestanden hätte, die verquälte Hoffnung nämlich, dem Schreckgespenst ließe sich mit einer Mentalität des »Ohne-mich« begegnen.

»Stell dir vor, es ist Krieg, und jeder bleibt zu Hause«: Warum erscheint der Wunsch nicht in seiner positiven Form? Weil er damit sein Versteck aufgegeben hätte und auch dem verträntesten Blick die Betulichkeit der Vorstellung deutlich geworden wäre, sich nur in die Angelegenheiten der Großen zu mischen, solange das alltägliche Leben seinen ruhigen Gang gehen kann und nicht durch die Verpflichtung gestört wird, sich auf hinderliche Konfrontationen einlassen zu müssen. »Und keiner geht hin«: Diese Wörter enthalten die beruhigende Zusicherung, daß Nichtstun, oder, wie es die gehobene Friedenssprache ausdrückt, »symbolische Aktion« auf wunderbare Weise hilft, einen Krieg zu vermeiden, und sie vermitteln das gewünschte Gefühl, daß auch ein Verzicht auf persönlichen Einsatz noch Früchte zeitigen kann.

Eine solche Deutung scheint dem zu widersprechen, was sich unseren Blicken in Mutlangen und Bonn, in Bremerhaven und Neumünster darbot, nämlich »die Breitenwirkung des >Dreier-Modells<, Kette — Kundgebung — Blockade, im Sinne einer Mehrgleisigkeit des Widerstands«, wobei »die Kette die Phantasie beflügelte und kreative Energie zur Vorbereitung freisetzte«: »Kein kilometerweites Nebeneinander — nein — die Kette hat ein solidarisches Miteinander von Mensch zu Mensch auf nie da gewesene Weise sichtbar gemacht. Das freiwillige Verknüpfen von 300.000 bis 400.000 Menschen war das unübersehbare Symbol des Friedenswillens von Millionen« (>Süddeutsche Herbstpost<, Nr. 6). Solche Sätze feiern das Trauerspiel als Fest. Sie möchten den Widerspruch einebnen, der darin besteht, dass man Widerstand leisten und gleichzeitig ungeschoren bleiben will. Dieser Wunsch geht aber nur in Erfüllung, wenn der Protest zu einem Spektakel heruntergebracht wird, dessen Ruhm vor allem darin besteht, sogar diejenigen, die im bürgerlichen Heldenleben nicht einmal ihren Nachbarn die Hand geben, dazu verleitet zu haben, mit wildfremden Menschen Schwitzhändchen zu spielen und die Überwindung ihrer Berührungsangst als politische Tat zu empfinden.

»Und keiner geht hin«: Das Bild vom Verzicht auf Bewegung hat entlastende Funktion, weil alle Phantasien über diejenigen Bewegungen ausgeblendet werden, die bei Konfrontationen nötig werden können: Laufen, rennen, flüchten heißt dann die Parole. Und die Weigerung, sich auf den Weg zu machen, entlastet auch das Denken. Es braucht sich nicht mit Bewegungsformen zu beschweren, die zur Vorbereitung, Ausführung und Abwehr kriegerischer Gewalttaten gehören: Das Gehen muss sich nicht verwandeln in das Knien beim Gewehranlegen oder das Bücken beim Hineinschieben einer Granate ins Geschützrohr.

Und doch: Der Satz ist auf der Höhe seiner Zeit. Denn zum einen wird an irgendeiner Ecke dieser Welt immer Krieg geführt, er »ist« ja dauernd da. Nur eben nicht bei uns. Deswegen lässt sich von der Bevölkerung eines Landes, das seit fast 40 Jahren im tiefsten Frieden lebt, auch über Krieg so schön reden. Zum anderen entspricht der leeren Vorstellung vom Krieg die Abstraktheit des modernen Krieges selber, dessen Opfer ja nicht im Kugelhagel stürmender Soldaten zusammenbrechen, sondern in einer Druck- und Hitzewelle verglühen. Es ist die Abstraktion, die der Lage entspricht. Zu Zeiten Verduns oder Stalingrads wurde die Leere der Bestimmung »es ist Krieg« noch mit den konkreten Erfahrungen der Kriegsfurie und den Tränen der Lebenden sinnlich aufgefüllt.

Dem Krieg, den viele fürchten, fehlt die Dimension des »von Angesicht zu Angesicht», weswegen auch die Vorstellung in den Köpfen herumgeistert, der amerikanische Präsident werde auf den »Knopf« drücken, um »die Raketen auf ihren Weg zu schicken (»Wenn irgend jemand im Weißen Haus oder [!] im Pentagon auf den Knopf drückt, dann sind wir in den nächsten fünf Minuten weg«, D. Sölle, >Der Spiegel<, 10. Oktober 1983, Nr. 48). Mit solchen Bildern, die die Realität auf das Niveau kindlicher Vorstellungsfähigkeit reduzieren, wird die Abstraktion wieder konkret, es gibt den Butzemann eben doch, der für alles Leid dieser Welt, und besonders der Deutschen, verantwortlich ist. Da machen Männer wieder Geschichte, und die Frage erübrigt sich, warum sie das tun.

»Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin«: Dieser Satz ist auch der gescheiterte Versuch, die Abstraktion aufzuheben, denn er produziert sie durch die mangelnde Sinnlichkeit, den namenlosen Ursprung des Kriegs und seine Auflösung im Nebel der Ort- und Zeitlosigkeit fleißig mit. Seine anfängliche Aufforderung, politisches Handeln anschaulich zu machen, evoziert kein Bild auf der Netzhaut. Dieser Widerspruch ist nicht unbemerkt geblieben, er wurde in erlebbare Gegenständlichkeit aufgelöst. Daher die Parodien: »Stell dir vor, es ist Sonntag und keiner kauft Bild«, oder: »Stell dir vor, es ist Dienstag und keiner guckt Dallas«. Solche Sätze zeigen Bilder der erfahrbaren Welt und wehren im Witz die Zumutung ab, sich etwas Unvorstellbares vorstellen zu sollen.

Das Unerträglichste an den Sprüchen der Friedensbewegung ist ihre Vorsicht, die die Möglichkeit des Rückzugs im Vorwärtsschreiten schon immer vorbereitet. Ihnen fehlt eine Entschiedenheit, die politischen Parolen sonst eigen ist, sie machen Karriere, von der jeder deutsche Schlagerstar träumen würde, wenn er schon das Wort» Frieden» im Munde fuhrt, wie etwa Nicole, die nicht den ganzen Frieden will ohne jedes Nein, sondern nur »ein bisschen Frieden«. Der Vergleich von Friedensparolen mit solchen Sätzen, in denen die seifige Gefühllosigkeit der deutschen Angestelltenkultur sich millionenfach erkennt, hat seinen Sinn. Wir kennen die definitorischen Künste eines Cartoons der Bild-Zeitung, der den Satz »Liebe ist, wenn …« durch immer neue Artigkeiten eines infantilen Liebespärchens illustriert. Die Friedensbewegung hat sich die Logik dieser Liebeskalauer zu eigen gemacht und eine Definition des Friedens angeboten, die die mangelnde Sinnlichkeit ihrer sonstigen Verlautbarungen dadurch ausgleicht, dass ein Überzeugungsmittel in die Entscheidungsschlacht um »unser besetztes Land« geworfen wurde, das seiner Wirkung auf ein Volk, das das Mutterkreuz erfunden hat und seine Autos mit dem Aufkleber »Ein Herz für Kinder« schmückt, ziemlich sicher sein konnte, das Kind: »Frieden ist, wenn einem Kind bei dem Wort Feind nichts mehr einfällt«.

Die Unverschämtheit dieser definitorischen Geste erlaubt keinen Widerspruch, unter dem autoritären Diktat der Omnipotenz (»Ich weiß, dass Frieden ist, wenn«) werden alle Möglichkeiten der Kritik von vornherein ausgegrenzt. Und Ausgrenzungen bestimmen diesen Satz überhaupt. Ausgegrenzt werden die Erwachsenen, die Kriege vom Zaun brechen und für sie verantwortlich sind. Ausgegrenzt wird der kulturelle Kontext der abendländischen Geschichte, denn wenn einem Kind zu dem Wort Feind nichts einfiele, dann wäre das Bibelwort »Liebet Eure Feinde« ebenso der Amnesie verfallen wie die Zeile des Luther-Liedes: »Der altböse Feind, mit Ernst er’s jetzt meint«. Wird die Geschichte so bequem dem Vergessen überantwortet, dann hat sich damit auch die Frage nach der historischen Rolle der Eltern erledigt und deren offensichtliches Bedürfnis, das Wort Feind aus der Welt der Sprache verschwinden zu lassen.

Die hier beschworene Zukunft hat nicht einmal die Perspektive einer Utopie, sie ist unrealistisch, gefährlich und ohne Ernst. Und insofern teilt auch dieser Satz das Schicksal seiner Brüder: Er lässt sich auf nichts Konkretes ein, löst den Anspruch der Realität ins Diffuse, Entfernte, Zeitlose auf.

Zurück bleibt das Kind, genauer »ein Kind«, das Kind schlechthin, genährt von der kollektiven Brust, die gewaltfrei aufzieht, unstrittig bequem für die Eltern. Der Satz könnte auch heißen: »Frieden ist, wenn unseren Kindern nichts mehr einfällt«, aber er hätte damit auch den Eltern schon etwas mehr individuelle Verantwortung gegenüber den »Gören« (oder den »Panzen«, wie meine Großmutter sagte) aufgebürdet. Vollends haftbar aber würden die Eltern für die Geschichte ihrer Kinder dann, wenn sie sich zu der Formulierung entschließen könnten: »Wenn meinem Kind …« Aber gerade die Verwandlung von »einem Kind« in »mein Kind« will dem Spruch nicht gelingen. Der lahme Verweis auf einen Prozess, an dessen Ende die geistige Einfalt unbekannter Kinder steht, kann nur eine Entschuldigung dafür sein, dass den Eltern zu dem Wort Frieden auch nichts mehr einfällt.

Die Parole von den einfallslosen Kindern als Garant des Friedens ist allerdings so harmlos nicht. Denn sie teilt uns viel über die Erwachsenen mit, die zwar versuchen, sich aus dem Satz herauszuhalten, deren Wünsche aber hinter den Wörtern ein gespenstisches Treiben entfalten. Denn dieser Satz räumt gewaltig mit den schmerzlichen Ambivalenzen im Gefühlshaushalt zwischen Müttern und Kindern auf, er schaltet mit deutscher Gründlichkeit ein für allemal alle aggressiven Strebungen als unerwünscht aus. In der Zukunft soll es herrschaftslos zugehen, Widersprüche sind aufgehoben, Konflikte getilgt, es gibt keine Feinde und auch keine Feindseligkeiten mehr, an denen, wie bisher üblich, das Kind seine Identität abarbeiten könnte: Folgen wir diesem Satz, dann ist die Freudsche Erkenntnis des Ödipuskomplexes eine Mär aus vergangenen Zeiten.

Das aber ist sie nicht. Und so nimmt die Definition eine Korrektur der herrschenden Verhältnisse vor. Wenn erst einmal das Wort Feind aus dem Erleben der Kinder getilgt ist, dann werden sie auch keine Aggressionen mehr haben. Ein frommer Wunsch nach braven Kindern, um die eigene Angst vor der Aggression gegen das Kind und den Aggressionen des Kindes gegen die Eltern zu verleugnen. Diese Art der Abwehr zeigt uns die Angst vor der familiären Realität, die den Frieden nicht atmet, den der Wunsch ihr einblasen möchte.

Und so wäre es das einfachste, alle Feinde kurzerhand auszurotten und nichts mehr übrig zu lassen, was den Wünschen nach Frieden entgegensteht. Wer so große innere Aggressionen hat und deswegen ebenso große Schuldgefühle entwickelt, der muss durch Verleugnung und Projektion die Schuld, die Aggression und die Angst davor loswerden. Da die friedensbewegte Mutter aber keine Feinde kennt (außer ihren Nachbarn und Untermietern), geschweige denn sie vernichten kann, so muss die Wut über das, was ihr täglich in ihrer Familie zugemutet wird, anders getilgt werden. Sie wird magisch zum Verschwinden gebracht, und der Satz hat sein Ziel erreicht, nämlich die Gleichschaltung aller antagonistischen und bedrängenden Gefühle zum Gefühl des Friedens. Der Spruch beschwört den ewigen Frieden aggressionsloser Kinder, die keine emotionalen Beziehungen mehr zu ihren Eltern haben. Und umgekehrt. Und so hat dieser Satz nicht einmal mehr Raum für den christlichen Gedanken von der Liebe zu den Feinden, sondern er meint das gefühllose Nichts, wie es ja auch unverhüllt wörtlich zum Ausdruck kommt, er meint die abstrakte Bedeutungslosigkeit.

Es ist kein Wunder, dass die Mütter im Spruch vom Frieden einfallslos gemachter Kinder nicht vorkommen. Zwar scheuen sie sich nicht, in aller Öffentlichkeit in schwarzer Kleidung herumzulaufen »als Zeichen der Trauer, dass die Menschheit noch nicht zur inneren und äußeren Abrüstung fähig ist«( (taz, 23. September 1983, S. 12). Doch schwarze Kleidung besagt noch nicht viel, vor allem nicht, wenn sie sich gleich der »Menschheit« annimmt und nicht erst einmal bei den Deutschen anfängt, über die die Mitscherlichs ja herausfanden, dass sie zur Trauer immer noch unfähig sind. In dem Spruch, den sie der Öffentlichkeit entgegenhalten, verbergen sich die Mütter jedenfalls. Mit gutem Grund. Sie verbergen sich, weil ihr Wunsch nach absolutem Frieden auf gewaltsame Weise erreicht wurde und sie an den Kindern hat schuldig werden lassen: Sie haben sie ihrer Sprache beraubt, des wichtigsten Mittels, in der sie ihre Emotionen und selbstverständlich auch ihre Wut hätten ausdrücken können, um nicht als Erwachsene später in blindem Aktionismus die Welt zerstören zu müssen.

Aggressionen gehören zum psychischen Repertoire des Menschen, und ihre produktiven Formen umgeben uns in den Formen lebendiger Beziehungen und unserer Kultur. Für den Frieden brauchen wir nicht aggressionslose Kinder, sondern Kinder, die ihre Gefühle in einer »Atmosphäre der Achtung und Toleranz« (Alice Miller) haben zeigen und ausleben dürfen, die die Eltern verletzten und in ihrer Macht schmälern konnten, ohne dafür mit Liebesverlust und Schlägen bestraft worden zu sein. Wir brauchen nicht sprachlose Kinder, sondern sprachbegabte Eltern, die es nicht nötig haben, ihre Kinder emotionslos, phantasielos und stumm zu machen, um auf diese Art ihrer eigenen Wut und den daraus entstehenden Schuldgefühlen zu entrinnen.

Für friedensbewusste Mütter, die ihre Säuglinge in Stillgruppen still machten und sie, wegen der taktilen Entwicklung, auch beim Marsch durch die Kaufhäuser immer am eigenen Leibe trugen, sind diese Überlegungen der kurzsichtige Nonsens eines Intellektuellen, der sich immer noch mit der »sog. Ratio« abplagt. Sie selbst sind da längst weiter, über Michael Ende rückwärts hinaus beim Klassiker gefälliger Innerlichkeit angekommen, dessen »Kleiner Prinz« noch immer die Gefühle in Worte fasste, die man in den »laufenden Beziehungen« so gerne gehabt hätte. Wer aber als Mutter behauptet, »man sähe nur mit dem Herzen gut«, der rennt eben sehenden Auges in die Beziehungsschwierigkeiten oder will, was näher liegt, als herzensguter Blinder von der familiären und gesellschaftlichen Wirklichkeit nichts wissen.

Aus gutem Grund. Er kann im Schmonses der Märchenerzähler so gut eine eigene Erfahrung verbergen, die die >Frankfurter Rundschau< ganz ungeniert der deutschen Öffentlichkeit präsentiert, obwohl »sie so schockierend wirken muss wie die Entdeckung der kindlichen Sexualität durch Sigmund Freud um die Jahrhundertwende« (FR, Nr. 291, 15. Dezember 1983): »Gewalt ist auch in der >normalen Familie< alltäglich.« Dabei stellen die Experten der »Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung« in einer Untersuchung mit dem einsichtigen Titel »Wenn Liebe zuschlägt« nur fest, was jedem Bundesbürger mit klarem Blick, soweit er ihn sich nicht durch Herzenssicht auf das Treiben seiner Umgebung zu stark trüben ließ, ohnehin deutlich ist, »dass die rund 30.000 schweren Kindesmisshandlungen, die Jahr für Jahr angezeigt werden, nicht einmal ein Zehntel der tatsächlichen Gewalttaten gegen Kinder bilden«.

Warum kleinlich sein. »Nicht einmal«, das heißt, wenn wir die »leichten« Misshandlungen, die gar nicht erwähnt werden, gleichfalls vernachlässigen: Wir dürfen in der BRD getrost mit 300.000 bis 400.000 Kindesmisshandlungen rechnen. Um der weitschweifigen Diffusität der Friedensparolen deutscher Eltern angesichts dieser Zahlen zur Anschaulichkeit zu verhelfen: »Die längste Menschenkette der Welt (die Engländer hatten es vor Jahresfrist in Greenham bloß auf 33 Kilometer gebracht)« (>Süddeutsche Zeitung<, 24. Oktober 1983, S. 3) hielt von Stuttgart bis Neu-Ulm, die gleiche Zahl von Teilnehmern »an Kettenbändern, die vielseitig verwendbar sind, als Stirnband oder Gürtel, als Hosenträger oder Hundeleine« (>Süddeutsche Herbstpost<, Nr. 3) zusammen, die an misshandelten Kindern, über den Daumen gepeilt, jährlich in Deutschland zusammenkommt. Ein ansehnlicher Kinderkreuzzug jedenfalls. Auf 108 Kilometern der größte.

Joachim Dyck


Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik 19/1984, 1 ff.