Materialien 1984

Papperl im Bahnhof

Im November letzten Jahres fand in München ein Prozess statt, der bisher von der Presse totge-
schwiegen wurde. Darum berichten WIR von einem politischen, für München in dieser Art ersten Prozess.

Im Vorfeld der Friedensaktionen des Herbst 1983 klebte der Münchner Herbert W. im Bereich des Hauptbahnhofes den oben abgebildeten Aufruf zur Blockade in Neu-Ulm an die Wände. Dass sol-
che Klebeaktionen nicht legal sind, zumindest nicht im Hoheitsbereich der Bundesbahn, weiß schließlich jeder. Beim fünften Papperl wurde Herbert W. denn auch prompt erwischt und verhaf-
tet. Fünf Stunden verbrachte er in Polizeigewahrsam, wurde erkennungsdienstlich behandelt; seine Wohnung wurde durchsucht. Darauf folgte kein Bußgeldbe- scheid wegen des illegalen Kle-
bens, sondern eine Anklage wegen „Aufforderung zu einer rechtswidrigen Tat gem. 240 StGB“1 und wegen Sachbeschädigung, weil er in die Zellenwand das Wort „Abrüsten“ gekratzt haben sollte. Wegen der Sachbeschädigung – um es vorwegzunehmen -wurde er u acht Tagessätzen verurteilt.

Was die „rechtswidrige Tat“ betrifft: Sie hat ja stattgefunden am 22. Oktober 1983 in Neu-Ulm. Doch keiner der Teilnehmer an der Blockade wurde deswegen angeklagt. Herbert W. sollte also nach dem Willen der Staatsanwaltschaft für den Aufruf zu einer Aktion verurteilt werden, die strafrechtlich nicht verfolgt wurde – wegen der Prominenz bei dieser Aktion, an die sich die Straf-
verfolgungsbehörden aufgrund des Presse- und internationalen Echos wohl nicht so recht heran-
wagten? Kommt nunmehr eine Kriminalisierungskampagne der Friedensbewegung durch die Hintertür?

So hatte denn ein Amtsrichter in München zu bewerten, ob es sich in Neu-Ulm um eine rechtswi-
drige Tat gehandelt habe oder nicht. Denn aufgerufen zum einen oder anderen hatte Herbert W. So kam es, dass die ganze Problematik der Nachrüstung in der Verhandlung aufgerollt wurde. Vertei-
diger Frank Niepel legte dar, dass die Stationierung der Pershing 2 gegen die Verfassung verstoße, da die Bundesregierung bewusst die Vernichtung des ganzen Volkes in einen politischen Poker einbeziehe, zum anderen die Entscheidung darüber in der Hand nur eines amerikanischen Bürgers liege.

In seiner mündlichen Urteilsbegründung vertrat der Richter die Auffassung, dass es endlich an der Zeit wäre, einen höchstrichterlichen Spruch darüber zu fällen, was in solchen Situationen Recht oder Unrecht ist. Er sehe jedenfalls den Tatbestand der Nötigung nicht gegeben. Im Gegenteil: Angesichts der elementaren Bedrohung halte er die Aktionen des Friedensherbst 1983 in ihrer Gesamtheit für einen „großen Tag in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands“. Und: „Das Ganze war eingebettet in den Vorgang einer kollektiven Meinungsäußerung. Wenn man das alles Revue passieren lässt, dann sprechen die weitaus besseren Gründe dafür, dass man ein strafbares Verhalten des Herrn W. nicht erkennen kann.“

Dieser Freispruch ist nicht das letzte Wort. Rechtsmittel sind eingelegt. Es werden weitere Instan-
zen der Gerichtsbarkeit mit der Frage befasst werden: Können die Regierenden politischen Wi-
derstand mit Strafgesetzen, die uns vor Gewaltverbrechern schützen sollen, niederhalten?

Günter Müller

:::

Verteidiger Frank Niepel:

Welche Rechtsprechung sich in der Bundesrepublik durchsetzen wird, ist noch völlig offen. Zum Teil werden die Teilnehmer an solchen Sitzblockaden verurteilt, bisher in der Regel allerdings nur zu sehr niedrigen, mehr symbolischen Strafen, zum Teil werden sie freigesprochen. Das Bundes-
verfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen eine rechtskräftige Verurteilung we-
gen Nötigung zur Entscheidung durch den Senat angenommen.Verfassungsrichter Helmut Simon charakterisierte 1983 auf dem Ev. Kirchentag die Teilnehmer an gewaltfreien Blockaden gegen die Nachrüstung, als durchweg loyale, engagierte und sachkundige Staatsbürger mit ungewöhn-
licher Hörbereitschaft und Friedfertigkeit. „Dass ausgerechnet solche Menschen sich durch die Nachrüstung an die Grenzen der Loyalität versetzt sahen, empfanden sie selbst als einen Schock; dass gerade sie ins Abseits geraten oder gar kriminalisiert werden könnten, erscheint mir ihret-
wegen wie um unseres Gemeinwesens willen unerträglich!“

:::

1 § 240 StGB: Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird bestraft. Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.


wir. Informationen für Münchner Gewerkschafter. DGB Kreis München 1/1985, 12.