Materialien 1959

Hinter der Stirn eines Politikers

Des hohen Parteifunktionärs Redefluss stockte plötzlich: Eine Eintagsfliege, die sich, wer weiß woher, in den ehrwürdigen Sitzungssaal verirrt hatte, versuchte ausgerechnet auf seinem stark ausgebildeten Riechorgan zu landen. Erbost über die Störung, holte der populäre Politiker mit der Handfläche aus, doch sein Plagegeist setzte sich noch rechtzeitig in sein linkes Nasenloch ab. Dort krabbelte die Fliege, von dem wütend nachspürenden Zeigefinger vergeblich verfolgt, höher und höher, bis sie unversehens durch eine winzige Öffnung im Schädelknochen ins Hirnhöhlenlabyrinth gelangte.

Dort verschnaufte das Insekt zunächst, um frische Kräfte für weitere Erkundigungsvorstösse zu sammeln, zumal es noch jung und von weiblicher Gattung war. Das Chaos der finsteren Gänge und Windungen im menschlichen Schädel erschien ihr recht unübersichtlich angelegt. Vorsichtig sich vorwärts pirschend, geriet die Neugierige zunächst in die Rumpelkammern der lieben Gewohnheiten und die Schreckenszimmer der Prinzipien und Vorurteile, darin die Plüschgarnituren der Moral modrig schimmerten und die verstaubten Gardinen der Tugenden des Hausherrn sich bei jedem frischen Hauch heuchlerisch bauschten.

Auf dem breit ausgewalzten Pfade der Plattheiten und Phrasen setzte die Fliege ihre Wanderung fort. An den düsteren Verliesen der Unterlassungssünden und Versäumnisse vorbei, stolperte sie in die unübersehbaren Wartesäle der vergeblichen Hoffnungen und dunklen Absichten, in denen eine Unzahl von Raupen und anderem Gewürm aller Art sich schneckenhaft träge im eigenen Schleim bewegten und sich als die Racheschmarotzer der ungesättigt gebliebenen Triebe und Instinkte ihres Herrn und Meisters legitimierten. In einem Gewölbe prallte das Insekt vor einem intensiv säuerlichen Geruch zurück, der dem Komposthaufen entströmte, auf dem die abgelegten Ideale des Politikers verfaulten. Von dort geriet sie an den Rand eines jähen Trichters, auf dessen Boden sie auf weichem Pfuhl den erschreckend aufgeblasenen Leib der menschlichen Ichsucht erspähte.

Angewidert von solcher inneren Schau eines Vernunftwesens dieser Erde, machte die Fliege kehrt; ihr Bedarf an Erkenntnissen in dieser Beziehung war gedeckt. Verfolgt vom Rauschen der Blutströme, die politischer und materieller Ehrgeiz nicht zur Ruhe kommen ließen, erreichte sie aufatmend den Ausgang, wo sie sofort wieder zum Ziele eines Mordanschlags wurde, der jedoch wie die vorhergegangenen danebenging.

Kaum war sie in Sicherheit, kroch sie erschöpft auf eine besonnte Fensterscheibe. Dort verstarb sie unvermittelt. Vorzeitig und ohne jeden Beistand. Denn was ihre Insektenpupillen erschaut hatten, ging über ihre geringen Eintagsfliegenkräfte. Niemand hatte sie vorher darüber aufgeklärt, wie es hinter der Stirn im Kopfe eines Politikers aussehen könnte …

Wilhelm Binder


Simplicissimus 22 vom 30. Mai 1959, 350.

Überraschung

Jahr: 1959
Bereich: Lebensart