Materialien 1959

Die Abschaffung des Staates

Eine ganz große Sache. – Wenn ich zurückdenke, schwankt mir noch jetzt der Kopf. Für euch ist das ja nun alles selbstverständlich geworden. Wie schnell sich doch der Mensch an Zustände gewöhnt, die seinen Eltern noch nicht einmal phantastische Verrücktheiten bekannt waren. Ja, wir lebten alle noch in einem „Staat“, ein Ding, von welchem ihr euch heute kaum noch eine blasse Vorstellung machen könnt.

Und da auch eure – gottlob meist jüngeren – Lehrer die furchtbare Existenzform des Menschen als „Staatsbürger“ nur noch aus Büchern kennen, möchte ich euch alter Mann – dessen Jugend dieser Staat mit Haut und Haaren gefressen hatte – ein wenig erzählen, wie der „Staat“ war und wie er schließlich abgeschafft wurde.

Die Regierenden sagten, der Staat sei notwendig, ohne ihn ginge es nicht. Daran seht ihr das erste Merkmal des Staates: Obendran saßen die Dümmsten, denn es ist wohl der Gipfel der Dummheit, wenn einer glaubt, dass es ohne ihn nicht geht.

Und so wurden wir heimtückisch darauf dressiert – in Schulen, Vereinen, Universitäten und Kasernen –, dass wir den Staat nicht als etwas von Menschen Erfundenes, sondern als etwas Natürliches wie Sonne und Regen, als etwas Notwendiges wie Geburt und Tod betrachteten.

Tja, ihr lacht. Aber e€s war so.

Wir vegetierten in ständiger Angst. Denn da sagte zum Beispiel ein Staat zum andern Staat (es gab eine Menge Staaten, fast so viele wie Völker): „Du anderer Staat, du gefällst mir nicht, ich mache mal einen Krieg mit dir. Leute habe ich genug, und die machen auch alle mit.“

Und dann fielen sie übereinander her. Mit unserm Leben hatte das alles nicht das geringste zu tun Ja, was hatte der Staat mit dem menschlichen Leben mit Lieben, Wahrheitsuchen, Arbeiten, Schlafen, Wandern und so weiter zu tun?

Wenn in den sogenannten „Zeitungen“ – ihr wißt nicht mehr, was das war: lose gefaltetes Papier – nicht täglich das unsinnige Gestammel von ein paar alten Männern wiederholt worden wäre, hätten wir den Staat glatt vergessen. So wenig hatte dieser Staat mit unserm menschlichen Leben auf der Erde zu tun. Allerdings sollten wir für ihn sterben, und zwar nicht mürrisch, sondern lustbetont, mit Wonne und freudiger Emsigkeit.

Das sei ein starkes Stück, meint ihr?

Gewiß, finde ich auch, aber die Leute kannten es nicht anders. Man müsste nun lang und breit über die Macht, die Lüge und die schwarze Magie im allgemeinen philosophieren, aber ich bin ja ein alter Privatmann, und ich will ein bisschen privat erzählen, damit ihr seht,wie der Mensch in den Dreck getreten werden kann, ohne sich zu wehren, ja, ohne es zu bemerken.

Wenn ich zum Beispiel von Hamburg nach Stockholm fahren wollte, dann konnte ich nicht einfach, wie ihr heute, nach Stockholm fahren, wie es meine Absicht war, sondern ich musste durch allerhand „Staaten“ – wie gesagt: nicht das geringste hatte der Staat mit dem menschlichen Leben und seinen Interessen zu tun – aber ich konnte eben nicht von einer Stadt in die andere, sondern irgendwo im Nebel starrten riesige Augen auf mich Winzling herab, nein, nicht auf mich, sondern auf ein Stück Papier, in welchem ich klebte, als sogenanntes „Passbild“.

Ach, ihr findet mich lächerlich und langweilig. Aber ich schwöre es: es war so! Bitte, lacht nicht. Der größte Teil meines menschlichen Lebens hing und scheiterte an solchen Idiotien. Lacht ruhig.

Das Wichtigste an diesem Staat war also ein endloser Stacheldrahtzaun, die „Grenze“. Die Straßen hörten an der Grenze alle auf, das heißt, sie gingen natürlich weiter, aber nicht immer, und theoretisch gesehen, gingen sie überhaupt nicht weiter. Es ist sehr kompliziert. Und dort standen nun unglaublich komisch angezogene Herren, die vollkommen überflüssig waren, denn ich wäre auch ohne sie nach Stockholm gekommen.

Ihr müsst euch das richtig plastisch vorstellen: Mitten in der Landschaft standen diese völlig unproduktiven Herren und hielten Autos an. Nein, eben nicht, um mitzufahren. Das wäre ja vernünftig und verständlich gewesen. Sie hielten sie an, nur so, aus Spaß oder aus Gewohnheit, wer weiß, jedenfalls aber, weil der Staat es ihnen gesagt hatte.

Nun werdet ihr in eurer wohltuenden Harmlosigkeit natürlich erstaunt fragen, wo es denn hinführen sollte, wenn man jeden Blödsinn täte, den irgendjemand daherredet. Und ihr werdet fragen, wieso denn diese Herren sich solchen Blödsinn ohne Widerspruch überhaupt erst sagen ließen? Und warum sie denn so komisch in der Landschaft stehen blieben, anstatt etwas Vernünftiges zu arbeiten, zu ackern, zu lesen oder Freiübungen zu machen?

Nein, so geht das nicht. Ihr müßt euch schon ein bißchen anstrengen, um dies alles – bedenkt, das zerstörte Leben eurer Urgroßväter – zu verstehen. Alle diese Herren, die mit sehr ernsten Gesichtern von Sinnlosigkeit zu Sinnlosigkeit wandelten, taten das „im Dienste des Staates“ und waren wirklich der Überzeugung, dass die Welt einstürzen und alle Menschen sich a tempo zerfleischen würden, wenn sie etwa einer sinnvolleren Beschäftigung nachgingen als Schranken auf und nieder zu lassen, in Dreierreihen, einer hinter dem anderen, zu marschieren, Wattebäusche durch eiserne Rohre zu ziehen, Löcher in die Erde zu graben und in furchtbar unbequemen eisernen Wagen herumzufahren (die nicht nicht einmal kleine Fenster hatten, so dass die bedauernswerten Insassen solcher Wagen weder die landschaftlichen Schönheiten noch die kulturellen Bauwerke der Umgebung genießen konnten).

Ihr meint, ich fasele schon wieder unerträglichen Blödsinn? Man setze sich doch als verständiger Mensch nicht in einen Wagen ohne Fenster! Das können doch nur Irre gewesen sein!

Ja und nein, muss ich da euer allzu rasches Urteil besänftigen. Jedenfalls waren es alles Herren im Dienste des Staates. Und außerdem eure Großväter. Die waren viel genügsamer – was das Nachdenken betrifft – als ihr und bekamen für ihr verhunztes Leben (wenn ihnen zum Beispiel ein Arm oder ein Bein während des Herumfahrens in den fensterlosen Wagen verlorengegangen war) ein Stück Blech, welches sie mit Hilfe einer Nadel an ihrem Jackett, noch dazu auf der Außenseite, befestigten.

Aber wie soll ich euch das alles erklären, Ihr könnt euch das ja gar nicht mehr vorstellen, mit welch urkomischen – und auch traurigen – Dingen wir uns unser Leben lang abgaben, solange es nicht nur Erde und Himmel gab, sondern noch dieses seltsame Ungeheuer, den „Staat“ dazwischen.

Und kein Sterblicher konnte sich damals die Welt ohne dieses Monstrum vorstellen. Wer es dennoch tat, wurde als „Umstürzler“ bezeichnet, obwohl es doch gerade umgekehrt der Staat war, der alles umstürzte: das Glück. große Häuser, ja, ganze Städte stürzte er um.

Aber alles hat einmal ein Ende. Und das Ende begann so:

Ein jüngerer Herr schrieb eines Tages ein Buch, dass ihn „der Staat“ überhaupt nicht interessiere. Er wurde erschossen. Aber Bücher kann man eben nicht erschießen. Seht ihr, das ist es.

Ein älterer Herr – Regierungsmitglied! – sagte vertraulich zu seiner Sekretärin: „Der Staat kostet monatlich fünfzig Milliarden, Fräulein Schmalbier, stellen Sie sich das Paradies vor, wenn diese Summe für das wirkliche menschliche Leben ausgegeben würde.“

„Sie sind ein Träumer, Herr Präsident“, sagte Fräulein Schmalbier.

„Ja, ich träume von der Wirklichkeit“, sagte der ältere Herr.

Seht ihr, meine Lieben, und alle Ereignisse – die ihr zum Teil noch als Kinder erlebt habt – wurzeln im tiefsten Grunde in dem so außerordentlich belohnten Desinteresse des jüngeren und in der Träumerei des älteren Herrn.

Ja. Nicht zu fassen, was? Wie sich alles wandelt. Ihr müsst meine Geschwätzigkeit entschuldigen. Vor hundert Jahren wäre ich dafür wegen Staatsmissachtung in ein sonnenarmes Mehrbettzimmer gesperrt worden. Und vielleicht wäre ich – wie viele andere in den vielen Staaten auf der Erde, denn es gab ja kein Stück Erde ohne einen Staat darauf – in solch einer Unterkunft gestorben, denn ich bin sehr zart und empfindsam. Und wer zart war und empfindsam und die kleinen, armen Menschen in Brooklyn genauso liebte und bedauerte wie die in Moskau, die in Zwickau wie die in Hannover, dem konnte es leicht passieren, dass er in die Mühlen der Staaten geriet und nicht nur von einer, sondern von allen gleichmäßig zermahlen wurde.

Wie, ihr versteht das wieder nicht, wieso die Zarten, Schwachen und Empfindsamen diesem Leviathan gefährlich werden konnten?

Na, freut euch doch! Seid glücklich! Die vor euch waren, haben das ausgebadet, und ich weiß noch: Alles konnten wir damals auch nicht verstehn …

Aladin Spür


Simplicissimus 25 vom 20. Juni 1959, 387.

Überraschung

Jahr: 1959
Bereich: Lebensart