Materialien 1985

Keim der Hoffnung in der Friedensbewegung

Wir sprachen mit Inge Aicher-Scholl. Das Gespräch führte unser Redaktionsmitglied Renate Bur-
meister. Inge Aicher-Scholl ist die Schwester von Hans und Sophie Scholl, die gemeinsam mit Freunden im Sommer 1942 unter dem Symbol der „Weißen Rose“ den Widerstand gegen Hitler begannen.

WIR: Es gibt sicher viele Menschen, die nicht wissen, was sie mit dem 8. Mai 1985 – dem 40. Jahrestag der Kapitulation – anfangen sollen. Wie wirken die geplanten Aktivitäten der Sieger-
mächte, Verbände, Parteien usw. auf Dich, und was empfindest Du dabei? Wie hast Du diesen Tag vor 40 Jahren erlebt?

Inge Aicher-Scholl: Für mich ist der 8. Mai ein Tag von großer historischer Eindeutigkeit. Hitler-Deutschland hatte den Krieg längst verloren. Die mörderischen Kämpfe, die sich nach dem 20. Juli 1944 noch abspielten und in denen Millionen Menschenleben gewissenlos verheizt wurden, waren nichts anderes als ein wahnhafter Überlebenskampf des Nazi-Regimes, nicht für das Vaterland, ge-
schweige denn für die Heimat. Der Waffenstillstand am 8. Mai bereitete diesem Morden ein Ende. Nicht wenige Deutsche hatten diesen Tag genauso herbeigesehnt wie die anderen Völker Europas. Als die Geschosse und die Bomben endlich schwiegen, ging es wie ein Aufatmen durch das Land. Für viele Menschen in Deutschland wie im übrigen Europa war der 8. Mai der Tag der Befreiung nicht nur von diesem schrecklichen Krieg, er war der Tag der Befreiung von Zwang, Angst, Unter-
drückung und Terror. Die Gefängnisse und Konzentrationslager wurden endlich geöffnet, nicht von uns, sondern von den Siegermächten. Dieses Erlebnis des Freiseins war so überwältigend, dass es die Bitternis jener Tage nicht ins Bewusstsein treten ließ.

Wie ich den Tag erlebte? Dazu muss ich vorausschicken: Ich wurde nach der Hinrichtung meiner Geschwister im Februar 1943 mit meiner Familie in Sippenhaft genommen, mit Ausnahme meines jüngsten Bruders, der als Sanitätssoldat an der Ostfront stand und im Frühsommer 1944 als ver-
misst gemeldet wurde.

Nachdem wir aus der Haft entlassen worden waren, tauchten wir in einem Einödhof im Süd-
schwarzwald unter, bei Bauern, die politisch so dachten wie wir. Sie behandelten ihre Kriegsge-
fangenen, die bei ihnen arbeiteten, ob Franzosen oder Polen, wie ihre Brüder. Dort waren wir geborgen. Und dort erlebten wir – es war schon einige Zeit vor dem 8. Mai, soviel ich mich erin-
nere – die letzten Wirren des Krieges, die aufgelösten deutschen Truppen, umherirrende Soldaten, Wehrmachtsuniformen in den Straßengräben, weiße Tücher in manchen Fenstern. Man sprach noch von einem Massaker der SS wenige Kilometer entfernt. Drei 16jährige Volkssturmangehörige fanden wir in der Kapelle des Bauernhofes versteckt. Unser Bauer versorgte sie mit Milch und Brot und warmem Wasser, wir boten ihnen Zivilkleider von meinem vermissten Bruder an und be-
schworen sie, heimzugehen. Sie lehnten verbissen ab, sie warteten auf die Wunderwaffe des Führers. Sie gerieten kurz darauf, halbe Kinder noch, in französische Kriegsgefangenschaft. – Inzwischen hatten die Franzosen die Gegend besetzt. Gegen Übergriffe der französischen Solda-
teska schützte uns und unsere Bauersleute ein kleines handgeschriebenes Schild ihres Offiziers
an der Haustür.

Die Erinnerung, die ich an diese Tage habe: kalter Frühling, ständiges Frösteln, verkümmerte und von Panzern plattgedrückte Schlüsselblumen, spätes Grün – aber Freiheit. Befreitsein von Angst, Ende des bangen Wartens, das Damoklesschwert über uns war weg. Die Zukunft begann sich zu öffnen wie die Knospen an den Zweigen. Nazis gab es plötzlich keine mehr, sie hatten einen ra-
schen Gesinnungswandel vollzogen, bis auf wenige, meist junge, darunter ein weinendes Mädchen, dessen Kummer sich in den Worten Luft machte: „Jetzt werden wir keine deutschen Volkslieder mehr singen dürfen.“

40 Jahre danach, was heißt das für Dich?

Nun singen sie wieder. Heute nach 40 Jahren verspürt man sie, die Bitternis meine ich, die ich vorhin andeutete; wenn man darüber nachdenkt, mit welchen Opfern auch Deutsche versuchten, die Fesseln der Unterdrückung und des Hasses zu zerreißen und die Kerker zu öffnen, – zwölf lange Jahre. Der 8. Mai 1985? Ein Tag des Nachdenkens über den 12jährigen Krieg nach innen, gegen Andersdenkende und Ausgestoßene im eigenen Volk; des Nachdenkens über den nach außen entfesselten Krieg gegen die Völker Europas, der auf uns zurückschlug. Zuerst hatten wir Polen befreit, so wurde gesagt, dann Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Norwegen usw. Befreit wovon? Hat das unser Volk einmal gefragt?

Nachdenken über das eigene Versagen, über unsere politische Gleichgültigkeit, unser kritikloses Anpassen an die Segnungen jenes Befreier-Staates.

Nachdenken über die eigenen Verbrechen in anderen Ländern… Sich klar werden darüber, dass dies Folgen haben musste, Reaktionen der angestauten Empörung. Sich ins Bewusstsein rufen, wer diese Rechnung als erste bitter bezahlen musste: die Flüchtlinge, die von der Walze des Krieges Vertriebenen, die, die ihre Heimat verloren hatten, die Kriegsgefangenen.

Im Januar dieses Jahres wurden mehr als 700 Strafbefehle und 300 Urteile in erster Instanz ge-
gen Anhänger der Friedensbewegung erteilt, die seit November 1983 an Sitzdemonstrationen oder symbolischen Blockaden vor dem US-Raketenstützpunkt in Mutlangen teilgenommen ha-
ben. Walter Jens, der Rhetorikprofessor, der mit Dir und vielen anderen an der Blockade in Mut-
langen teilgenommen hat, sagte in einem Fernsehinterview: „Nach der Befreiung von 1945 hätte ich mir niemals vorstellen können, dass ich 40 Jahre danach wegen Anstiftung zum Frieden als verwerfliches Delikt vor dem Richter stehe.“ Gibt es für Dich als aktives Mitglied der Friedensbe-
wegung einen ähnlich empfundenen Zusammenhang?

Ich empfinde es haargenauso wie Walter Jens. Wenn uns das Ungeheuerliche nicht täglich von der Presse zur Gewohnheit gemacht würde, wäre diese Stationierung massenhafter Atomraketen auf unserem Heimatboden wie ein schlechter Traum. Jedoch – sie ist eine bedrückende Realität, diese immer mehr sich breitmachende Rüstung, die wie eine malmende Kuh unser Volksvermögen ver-
zehrt. Schon die Remilitarisierung Deutschlands in den 50er Jahren war ein Verhängnis, eine Weichenstellung, die wir im Mai 1945 niemals für möglich gehalten hätten.

Die Chancen Deutschlands im Mai 1945, ein bescheidenes Modell des Friedens und in einem tiefe-
ren Sinne der Wiedergutmachung in der Mitte Europas zu werden, sind nicht angenommen wor-
den. Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Ein Keim dieser Hoffnung liegt für mich in der Friedensbewegung. Ich möchte das mit einem Vers aus einem Gedicht von Ingeborg Bachmann aus dem Jahre 1953 sagen:

Der Krieg wird nicht mehr erklärt
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Hans und Sophie Scholl wurden am 28. Februar 1943 verhaftet und vier Tage danach in einem „Schnellverfahren“ zum Tode verurteilt. Sie wurden in München-Stadelheim mit dem Fallbeil hingerichtet.


wir. Informationen für Münchner Gewerkschafter. DGB Kreis München 2/1985, 3f.