Materialien 1985

Der Kontrollfahrer

Straßenbeleuchtungskontrollfahrer Kunz lebt mit vier Kindern in einer Zweizimmerwohnung. Seine Frau war vor zwei Jahren an Lungenkrebs gestorben. Als Kontrollfahrer hat er nur Nachtdienst, das ist ihm recht, denn erstens kriegt er dafür Nachtdienstzulage und zweitens
kann er tagsüber mal nach seinen Kindern sehn.

Er wurde seinerzeit auf Nachtdiensttauglichkeit untersucht; nackt stand er vor dem Schreibtisch des Arztes und log, ohne rot zu werden; die chronische Gastritis sei schon längere Zeit ausgeheilt, Herzbeschwerden hätte er noch nie gehabt, die arge Gesichtsblässe hätte er wegen eines Todes-
falles in der Familie; sonst sei er immer rotbackig und fühle sich pudelwohl.

Er wurde tauglich geschrieben. Schluckte Tabletten und kriegte die Nachtdienstzulage.

Kunz hatte aber einen Fehler, er konnte bei Betriebsversammlungen das Maul nicht halten, wetterte gegen die Unterbezahlung, prangerte den Kantinenfraß an, rügte die konfusen Dienst-
pläne, ja er besaß sogar die Frechheit, in der letzten Betriebsversammlung zu fordern, die städtischen Arbeiter müssten mitbestimmen. Kurzum, er war den Oberen ein Dorn im Auge.
Jene Oberen waren deshalb geneigt, dem Kunz eins drauf zu geben, ihm das Maul zu stopfen,
aber wie?

Kunz hatte, seit er im Nachtkontrolldienst war, nur 14 Tage wegen Krankheit gefehlt, denn er konnte viel aushalten, konnte viele Tabletten schlucken, aber dass er immer blasser und dürrer wurde, konnte er nicht verhindern. Das war für Amtmann Dirl der Angelpunkt, den unliebsamen Querulanten abzufangen.

»Sie sind ja gesundheitlich für den Nachtkontrolldienst gar nicht mehr brauchbar, Kunz«, sagte Dirl.

»Ich hab nur 14 Fehltage«, verteidigte sich Kunz. »Fehltage hin, Fehltage her, schaun S’ doch in den Spiegel, wie Sie ausschauen. Nein, Kunz, Sie gehen mir morgen zum Nachuntersuchen. Sie werden schon auskommen ohne Nachtzulagen, müssen sich halt auch nach der Decke strecken.
Ich glaube, Kunz, Sie sind bei den Betriebsversammlungen immer so aggressiv, weil S’ den Nachtdienst einfach nicht vertragen können, stimmt’s?«

Kunz blickte auf Dirls fleischige Hand, die auf dem Schreibtisch lag. Er wusste, dass er diesmal
bei der Nachuntersuchung nicht durchkommen würde. Er überlegte eine Erwiderung, die diesen scheinheiligen Amtmann treffen musste.

»Da haben Sie eigentlich recht«, gab Kunz raus, »besser nachts schlafen, dann ist man bei
den Betriebsversammlungen wacher und kann den Kollegen die Augen besser aufreißen, und ausgschlafen kann man auch mehr mitbestimmen, stimmt’s?«

Dirl lächelte gezwungen. Er fühlte da was heranwachsen.


Artur Troppmann, Der Xaver. Münchner Typen und Originale, Dortmund 1986, 171 f.