Materialien 1985

Oliver Behnssen und das Finanzamt

Finanzamt München I
8OOO MÜNCHEN 2,

4.10.1985

Herrn
Oliver Behnssew
Sedlmayrstr. 26
8000 München 19

Betrifft: Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1984

Sehr geehrter Herr Behnssew!

Zu Ihrem Einspruch vom 19. September 1985 nehme ich wie folgt Stellung:

1. Arbeitszimmer:

Nach § 4 Abs. 4 EStG sind Betriebsausgaben diejenigen Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind. Diese betrieblich bedingten Kosten sind aber streng von den nach § 12 EStG nichtabzugsfähigen Kosten der Lebensführung zu trennen. Zu diesen Kosten der Privatsphäre gehören grundsätzlich auch die Aufwendungen für die Wohnung eines Steuerpflichtigen. Die Rechtsprechung lässt jedoch ausnahmsweise die anteiligen Aufwendungen zum Abzug zu, wenn in der Wohnung noch genügend Wohnraum zur Befriedigung der persönlichen Wohnbedürfnisse verbleibt, Art und Umfang der Tätigkeit einen abgeschlossenen Raum in der Privatwohnung als objektiv notwendig erscheinen lassen und feststeht, dass das Arbeitszimmer so gut wie ausschließlich dem beruflichen bzw. betrieblichen Zweck dient.

Es widerspricht jedoch der Lebenserfahrung, dass bei einer Größe der gesamten Wohnung von 48 qm und einer Größe des Arbeitszimmers von 16,50 qm noch genügend Raum zur Befriedigung der persönlichen Wohnbedürfnisse verbleibt. Außerdem erscheint es unglaubhaft, dass bei einer Zwei- bis Zweieinhalb-Zimmerwohnung ein sogenanntes „Arbeitszimmer“ so gut wie ausschließlich nur beruflich bzw. betrieblich genutzt wird. Die gesamten Aufwendungen für das Zimmer können daher aus den o.g. Gründen nicht zum Abzug zugelassen werden.

2. Fachliteratur

Bei den Ihrerseits geltend gemachten Aufwendungen für Fachbücher handelt es sich durchwegs um Aufwendungen für die Anschaffung von Büchern mit allgemeinbildendem bzw. sog. schöngeistigem Inhalt. Eine leichte und einwandfreie Trennung zwischen beruflichem (betrieblichem) Anteil und privatem Anteil der Nutzung ist hierbei nicht möglich. Die gesamten Aufwendungen zählen somit zu den nichtabzugsfähigen Ausgaben der privaten Lebensführung (§ 12 EStG). Ein Abzug als Betriebsausgaben ist nur dann denkbar, wenn das jeweils betroffene Buch bereits schon einmal für private Zwecke erworben worden wäre.

3. Italienischkurs

Diese Aufwendungen gehören ebenfalls zu den steuerlich nichtabzugsfähigen Kosten der privaten Lebensführung.

Ich bitte um Ihre schriftliche Stellungnahme innerhalb von vier Wochen nach Erhalt dieses Schreibens. Auf die Möglichkeit, den Einspruch zurückzunehmen, weise ich hin.

Hochachtungsvoll
Im Auftrag
gez. Süß
Steuerassistent
_ _ _

Oliver Behnssen
Sedlmayrstraße 26
8 München 19, den 6. November 1985

SG XI – StNr. 152/33378

Finanzamt München I
Herrn Steuerassistent Süß
Zimmer 1146
Karlstr. 9 – 11
8 München 2

Betrifft: Ihr Schreiben vom 4. Oktober 1985

Zu Ihrem geschätzten Schreiben vom 4. Oktober 1985 nehme ich wie folgt Stellung:

Zu 1: Entgegen Ihrer Auffassung verbleibt mir in meiner Wohnung, abgesehen vom Arbeitszimmer, zur Befriedigung meiner persönlichen Wohnbedürfnisse noch genügend Wohnraum, nämlich: eine große Wohn- und Schlafküche (mit Fenster zum Hof), ein Nebenraum (mit Fenster zum Hof) mit großem Kleider- bzw. Wäscheschrank und Sofa (zu einem Viertel als Abstellraum benützt), ein Kleinraum (mit Fenster zum Hof) mit Eisschrank und Gemüse-Obst-Stellage, ein Entrée (Diele) mit Spiegel und Frisier- bzw. Kosmetiktischchen, eine Toilette mit Warmwasserwaschbecken und Duscheabteil, insgesamt etwa 32 qm. Sie werden ernsthaft nicht bestreiten können, dass es sich dabei für einen alleinstehenden Mann um eine ausreichende, alle persönlichen Wohnbedürfnisse befriedigende Wohnanlage handelt.

Um jedoch allen weiteren Argumentationen auf beiden Seiten zur Abkürzung zu verhelfen, bitte ich Sie, so bald als möglich dieselbe selbst in Augenschein zu nehmen, eine Besichtigung anzuordnen. Ich werde mir, soweit dieselbe in meine Arbeitszeit fallen sollte, eine stundenweise Dienstbefreiung von meinem Arbeitgeber, der Bayerischen Versicherungskammer, geben lassen. Außerdem: Aus der obigen Beschreibung können Sie ersehen, dass alle drei darin genannten Zimmer nur Fenster nach der Hofseite haben. Der Hof ist ein Großhof, in gleicher Weise offen für weitere sieben (also insgesamt acht) gleichartige Wohnblockhäuser mit je 14, also insgesamt 114 Mietparteien (Mietern). Ergebnis: Gut ein knappes Dutzend Kinder zwischen drei und neun (oder mehr) Jahren veranstalten laufend Rollerwettfahrten, spielen Fangen, schreien, kreischen, rufen laut nach Mama und Papa, wenn es Streit gibt, kurz: lärmen für jemanden, der im Parterre wohnt und Ruhe zum Arbeiten, zum Schreiben bitter nötig hat, in einer kaum zumutbaren Weise. Das Arbeitszimmer dagegen hat als einziges in meiner Wohnung ein Fenster zur anderen, zur Straßenseite, zur Sedlmayrstraße, die als ruhige, verkehrsarme Straße (parallel zwischen Donnersberger- und Renatastraße liegend) bekannt ist.

Zu 2: Ihren zu diesem Punkt gemachten Ausführungen kann ich, was mich betrifft, keineswegs folgen. Ein Lyriker muss nicht nur Gedichte von Goethe, Schiller, Mörike, Rilke, um nur einige zu nennen, oder neuerdings von Heine oder Brecht gelesen haben, was noch zur Allgemeinbildung zu zählen wäre (aber solche Autoren stehen auf meinen Bücherkassenzetteln gar nicht drauf), sondern er muss sie auch sofort wieder (und das kostet auch ein Stück Arbeit) vergessen. Denn wenn mir ein Verlagsdirektor in meinen Gedichten Strukturen oder Anklänge aus Gedichten der beispielsweise vorhergenannten Autoren nachweisen könnte, würde ich sofort belächelt, als Epigone abgetan werden, man würde sofort sagen, der „rilkt“, der „heinelt“ ja, oder: das hört sich an wie Wilhelm Busch, und niemand würde mir für ein solches Gedicht je auch nur einen Pfennig bezahlen, und ich wäre sofort aus dem Markt, könnte mich bestenfalls noch auf Kaffee- oder Rentnerkränzchen versuchen.

Um aber im Markt bleiben zu können als moderner Lyriker, muss ich auch jedes Jahr die zehn oder fünfzehn Neuerscheinungen lesen, die in der Bundesrepublik in der Sparte Lyrik herauskommen, ja sogar neu herauskommende Gedichtveröffentlichungen von ausländischen Autoren. So ist fast jeder zweite oder dritte Nobelpreisträger der Literatur auch Lyriker. Nur so kann ich wissen, was andere schon so oder so geschrieben haben, und was ich deshalb anders schreiben muss, auf erfrischende Weise anders, wenn ich gedruckt werden will, oder wo der Trend langgeht, der sich ja auch in der modernen bundesrepublikanischen Lyrikauffassung etwa alle zwei bis drei Jahre verändert. Und um sich das alles zu erarbeiten, anzueignen, dazu gehört Konzentration, Geduld und ein ständig wachgehaltenes Interesse für dieses Metier. Und eben die oben zitierten laufenden Neuerscheinungen in Sparte Lyrik: Für mich sind das eben Fachbücher, die mir die überlebensnotwendigen Marktinformationen bringen.

Für einen Lyriker geht eben die Allgemeinbildung, will er im Markt bleiben, das heißt gedruckt werden, ziemlich schnell und äußerst streng in eine Spezialbildung über, und diese wollen Sie mir, sehr geehrter Herr Süß, nach den vorangemachten Ausführungen wohl nicht ernsthaft absprechen. Und an dieser Stelle ist für Kenner, und einen solchen werden Sie in meinem Falle zur authentischen Beurteilung des Vorangesagten unbedingt zu Rate ziehen müssen, eine leichte und einwandfreie Trennung zwischen beruflichem Anteil und privatem Anteil der Nutzung von neuerschienenen Lyrikbüchern (für einen Lyriker) möglich. Das Fach des Lyrikers ist Lyrik, und Lyrikbände (in der oben beschriebenen Weise) sind für einen Lyriker Fachbücher. Dieser Auffassung wird sich auch der Hohe Bundesfinanzgerichtshof nicht verschließen können. Wäre es anders, könnte jeder gute bis hervorragende Gedichte schreiben, und beispielsweise Zeitungslektüre genügte bereits, um im Gespräch, im Markt zu bleiben und den ungeheueren Konkurrenzdruck der jährlichen Neuerscheinungen in dieser Sparte abzuwenden.

Außerdem ist nach telefonischer Auskunft der Erste Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der Bundesrepublik Deutschland, Herr Hans-Peter Bleuel, wohnhaft 8012 Ottobrunn, Amselweg 11,   jederzeit bereit, mir eine Fachverbandsbestätigung darüber auszustellen, dass die oben von mir beschriebenen Lyrikbücher für mich Fachbücher sind, ebenso wie die Erste Vorsitzende des Bayerischen Schriftstellerverbandes, Frau Lore Schultz-Wild, wohnhaft München 40, Konradstraße 16.

Zu 3: Um meine Gedichte immer besser auch in die vokalreiche, melodische Sprache des Italienischen übersetzt zu bekommen, besuche ich in der Münchener Volkshochschule nach zwei Grundkursen inzwischen den vierten Kurs für Fortgeschrittene in Italienisch, um das gewisse, nur sehr schwer übersetzbare Etwas, das in jedem Gedicht enthalten ist, authentischer in Übersetzungen von Übersetzern wiederzufinden. Inzwischen sind von meinen Gedichten unter meiner persönlichen Mithilfe, Absprache und Anwesenheit etwa 40 ins Italienische übersetzt worden.

Zum Beweis dafür lege ich Ihnen Fotokopien von etwa zehn Gedichten von mir bei, die schon vor Jahren in einem Mailänder Verlag in drei verschiedenen Anthologien auf Italienisch veröffentlicht worden sind.

Sollten Sie die dabei von mir eingebrachten Anstrengungen des weiteren zum Allgemeinbildungswillen statt zur Spezialausbildung zählen wollen und die Kursgebühren von jährlich zweimal 89,- DM zu steuerlich nicht absetzungsfähigen Kosten der privaten Lebensführung rechnen müssen, so will ich an dieser Stelle nur noch anführen, dass meiner Schulbildung entsprechend – erste Fremdsprache Englisch (sechs Jahre), zweite Fremdsprache Französisch (vier Jahre) – mein Ehrgeiz eher hätte dahin gehen müssen, mich in einer dieser beiden Sprachen zu vervollkommnen, als mit einer dritten bei Null anzufangen.

4. Meinen Familiennamen gleich zweimal (einmal in der Anschrift, einmal in der Anrede) im letzten Buchstaben mit w statt mit n schreiben zu lassen, beruht wohl auf einem verzeihlichen Versehen Ihrer Schreibkraft.

Hochachtungsvoll
Oliver Behnssen


kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 2/1986, 90 ff.

Überraschung

Jahr: 1985
Bereich: Lebensart

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