Materialien 1985

Abends kam „s'Gschwerl“

Wie die „Reale Bierwirtschaft Donisl“ zur Räuberhöhle verkam

Bayerns Lebenselixier, das Bier, ist in Gefahr – ausgerechnet zum 175-jährigen Jubiläum des Oktoberfestes. In mehreren Fällen sollen Brauereien zwecks Haltbarmachung dem durch das Reinheitsgesetz geschützten Gerstensaft giftige Substanzen zugesetzt haben. Zunehmend wird über „betrügerisches“ Einschenken geklagt. Elf Gaststättenkontrolleure sind rund um die Uhr im Einsatz, um den „in letzter Zeit etwas verdunkelten Weltruf der Münchner Gastlichkeit“ (so Kreisverwaltungsreferent Peter Gauweiler) wieder aufzuhellen. Bis März 1985 werden 84 Betriebe stillgelegt, hundert weiteren droht „Bereinigung“, weil dort Prostituierte, Minderjährige, nicht gemeldete Ausländer, Diebe oder Dealer amtlich entdeckt oder gemeldet wurden. Sogar dem Sprecher der Wiesnwirte – der seine Gaudi mit Gauweiler getrieben hat – wird ein Bußgeld wegen schlechten Einschenkens aufgebrummt und dann auch noch die Konzession entzogen, weil er Illegale beschäftigt haben soll. Der größte Gastronomie-Skandal indes spielt sich im Herzen der Stadt ab, er wird schließlich „g’richtsmaßig“.

Er hatte ein gutes Verhältnis „mit die Leut“. Nur am Schluss der mehrstündigen Vernehmung bekannte Rudolf L. (40), einst Kellner der „Realen Bierwirtschaft Donisl“ am Marienplatz: „I war koa Heiliger, so is net.“ L., der sich als erster von über zwanzig Beschuldigten seit 15. Januar 1985 vor dem Landgericht München I wegen fortgesetzter Hehlerei, schweren Raubs, Bandendiebstahls und fortgesetzten Betrugs verantworten musste, sah sich im Wesentlichen als unschuldig. Laut Anklage jedoch hatte er von 1979 bis zur Schließung der ehemaligen Traditionsgaststätte im Mai 1984, mit fünfzehn bis zwanzig Taschendieben seine Gäste mit K.O.-Tropfen betäubt, beraubt, mehrfach abkassiert oder Diebesgut zu Niedrigstpreisen abgekauft.

„Abends waren nette Leute da von den umliegenden Banken und Geschäften, erst ab Elfe auf d’Nacht is s’Gschwerl kemma.“ Rudolf L. übersetzte für das Gericht: „Ein etwas niveauloseres Publikum, aber das waren auch Menschen.“ L. war jahrelang Kellner und Sicherheitsfachkraft. Er hatte seinen Arbeitsplatz in der „Schwemme“, beim Bierausschank, die er „als „Goldgrube“ bezeichnete und die nach den Ergebnissen monatelanger Ermittlungen eine regelrechte Räuberhöhle war. Man kannte sich gut in dem Münchner „Milljöh“, das der Schneidersohn, der sogar einmal Industriekaufmann gelernt und in einem Verlag gearbeitet hatte, im Jargon der Vorstadt schilderte.

Wenn die Mitternacht nahte, schwemmte es sie in die Schwemme des „Donisl“. Da standen oder hingen sie dann an Holzfässern oder der Theke und tranken Maß für Maß. Zum Beispiel „der Martin, dem ich für 50 Mark jedes Mal an Hasen besorgen musste, auch wenn der noch so greisli war“. Es kamen regelmäßig der Metzger Kare, der gschiaglerte (schielende) Willy, der Anderl, der Freund von der fetten Ruth, „der inzwischen erfroren ist oder am Schlag gschtorm“. Des Weiteren ein Typ ohne Zähne und mit lockerer Faust. So mancher Gast war „mehr a Leberkäszuhälter“. Die meisten Stammkunden waren „Schnurrer“ (Bettler), „Ziager“ (Taschendiebe), „Raben“ (gewöhnliche Diebe), „Kraxler“ (Einbrecher) und dazu viele „bsuffne Weiber, die hat ma nur mit der Beißzang o’fassen kenna“. Einige Stammgäste pflegten, wie sie als Zeugen schilderten, frühmorgens durch den U-Bahn-Tunnel heim zu torkeln.

Immer verloren sich auch nachts noch vereinzelte Touristen im „Donisl“, um die legendären Weißwürste und vermeintliche Münchner Lebensart zu kosten. Diese Ahnungslosen freilich wurden nur zu oft Opfer des „Gschwerls“, insbesondere der Zuhälter unter dem Personal. Wer sowieso schon angetrunken war und unvorsichtigerweise eine dicke Brieftasche gezückt hatte, dem wurde schon mal ein Mittelchen ins Bierchen geschüttet, das ihn völlig wehrlos machte gegen schnelle Zugriffe langer Finger. Bei größeren Scheinen wurde Wechselgeld grundsätzlich nicht herausgegeben. Reklamationen wurden dann durch Rausschmiss geregelt. Mit maßlos überhöhten Rechnungen für miserabel eingeschenkte Massendrinks kam man noch gut davon.

Doch der Angeklagte sah es ganz anders: „Ich schwöre bei allem, was ich in der Welt besitze, ich habe diesen Dreck nie in der Hand gehabt. So a Sau bin i net.“ Gemeint waren die Tropfen „unbestimmbarer Kongruenz“, in der Anklageschrift auch „K.O.-Tropfen“ genannt. Ein Gast zum Beispiel, der nach eigenem Bekunden zwölf Halbe ohne Schwierigkeiten vertrug, vermutete sie in seinem Bier, weil er nach dem ersten Glas schon so benebelt gewesen sei, dass er das Abhandenkommen von einigen tausend Mark erst später bemerkte.

Nachdem ihm derlei Vorkommnisse mehrfach vorgehalten wurden, wand sich L.: „Jetzt glaub i selber, dass irgendein linkes Schweinderl damit gearbeitet hat.“ Er hatte auch einen Verdacht und nannte den Namen eines früheren Kollegen, der nur leider inzwischen verstorben war. „Die Sau hat in meinem Service gearbeitet.“ Auch mit der vorgeworfenen Hehlerei wollte der Rudi „nia nix“ zu tun gehabt haben. Sein Publikum habe ihm „das Glump“ oft regelrecht aufgedrängt, „zu mir hat halt jeder Vertrauen gehabt“.

Rudis Verhältnis zu seinen Chefs war nicht minder vertraulich. Der 1977 verstorbene „Donisl“-Pächter B. habe sich öfter Bargeld geholt, um in einem benachbarten Nachtclub weitermachen zu können. Seine Witwe – gegen die wegen Steuerhinterziehung ermittelt wurde – sei „weder Geschäftsfrau noch Wirtin gewesen, sondern nur a Frau, a Hausfrau“. Auch mit der Polizei hatte er sich eigentlich gut verstanden: „Die holten sich immer ihre Weißwürste bei uns und waren recht großzügig.“ War der „Sicherheitsfachmann“ L., der immerhin die Unterschlagung von „einigen Leberkäsen“ freimütig zugab, nun ein Räuberhauptmann der Gastronomie oder nur ein kleiner „Leberkäs-Zuhälter“?

Als am 1. Februar das Urteil gesprochen wurde, lächelte Rudolf L. nicht lange hinter einem Berg von Blumen, den ihm, dem Hauptdarsteller des vor Gericht spielenden Volksstücks, unbekannte Verehrer auf die Anklagebank gelegt haben. Ausgerechnet an seinem 41. Geburtstag wurde der Kellner zu zwei Jahren Freiheitsentzug verdonnert. Schuldig befunden zweier Fälle des schweren Diebstahls, einer Sachhehlerei und eines Betrugs.

Emotionen und Verwunderung darüber, „wie sich in einer der ältesten Münchner Gastwirtschaften eine so hohe Kriminalität eingenistet hat“, hätten dieses Verfahren umgeben, stellte das Gericht fest. So begann der Vorsitzende die Urteilsbegründung denn auch mit einer Charakterisierung der vielen Nebendarsteller und Statisten, die viele Jahre lang die Atmosphäre in der Donisl-Schwemme bestimmt hatten. Fast alle seien vom Alkoholgenuss mehr oder minder gezeichnet. „Alle konnten einen auch traurig stimmen, waren aber selbst keine Kinder von Traurigkeit.“

Angesichts derartiger Zeugen wurden nur wenige stichhaltige Indizien gewertet: Bei L. zwei Kameras, die er einem angeblich Unbekannten für zwei Maß Bier abgekauft hatte, die aber in derselben Nacht zwei amerikanischen Touristen gestohlen wurden. Einem Jugoslawen habe L. 2.000 Mark aus der Brieftasche genommen, was der „einarmige Sepp“ gesehen habe. Einem anderen Betrunkenen habe er 700 Mark abgenommen, indem er einfach in dessen Geldbörse griff. Erschwerend wertete das Gericht, dass alle Diebstahls- und Betrugsopfer hilflos und wehrlos gewesen seien. Dagegen konnte es dem Hauptangeklagten nicht nachweisen, dass im Donisl auch mit K.O.-Tropfen „gearbeitet“ wurde. Eine Geldstrafe von 3.500 Mark wegen Förderung der Prostitution in Passau wurde in das Urteil gleich mit einbezogen.

Der zweite Akt der Kriminalkomödie begann am 5. Februar. Hauptdarsteller: Engelbert M. (54), ehemals Geschäftsführer der inzwischen bekanntesten Gaststätte Deutschlands, der zunächst seine Vermögenslage so darstellte: „I hab koa Haus, koa Boot, koa Flugzeug, wie mir der Staatsanwalt vorgehalten hat, sondern nur a Ferienwohnung am Chiemsee und a ledigs Kind auf den Bahamas.“ Nicht mehr um schweren Raub, Diebstahl und nicht nachzuweisende „K.O.-Tropfen“ ging es diesmal. M. und seine Büfett- und jahrelange Herzensdame Margot G. (46) mussten sich der gemeinschaftlich begangenen Untreue verantworten, der Geschäftsführer außerdem noch der Beihilfe zur Steuerhinterziehung, der Hehlerei und der Unterschlagung.

Der Herr mit der roten Weste unterm blauen Blazer fand die Zustände in seiner „realen Bierwirtschaft“ ganz normal – im Vergleich jedenfalls mit den vielen Restaurants in aller Welt, wo er schon gearbeitet hatte. „In so einem Betrieb,“ stammelte er, „ist es unvermeidbar … also … es kommt immer was vor.“ Ja, öfter sei ein Gast gekommen, dem plötzlich „der Geldbeutel gefehlt hat und solche Sachen“. Stets sei er solchen Sachen nachgegangen, habe sogar Anweisung gegeben, dass grundsätzlich immer die Polizei gerufen werde. Wenn er wegen Reklamation einen Kellner zur Rede gestellt habe, dann habe es meistens geheißen: „Das ist nur a Bsuffener.“ Nie habe er sich träumen lassen, „dass solche Gewalttaten und solche Sachen …“.

Die Sachen, die ihm angelastet wurden, hatten weniger mit Gewalt zu tun als mit der Wurstigkeit, mit der im „Donisl“ über Weißwürste und all die anderen Schmankerl abgerechnet wurde. Laufend sollen Kellner und Kellnerinnen die dort üblichen Altmünchner Speisen ohne Bon oder zum halben Personalpreis am Büffet geholt und zum normalen Preis an die Gäste verkauft haben. Auf diese Weise sollen seit dem Tod des Pächters Kurt B. im April 1982 bis zur polizeilichen Schließung im Mai 1984 mindestens 1.333.711,82 Mark, wie der Staatsanwalt genau ausgerechnet hatte, zum Nachteil der Witwe Paula B. veruntreut worden sein. Den Mehrerlös habe das Personal unter sich aufgeteilt.

Für sein eingestandenes „Fehlverhalten“ nannte der Geschaftsführer zunächst ein ganz allgemeines Motiv: „Alle ziehen, jeder nimmt, warum i net?“ (Mit dem Ganovenausdruck „Ziehen“ war im vorigen Verfahren der dort übliche Taschendiebstahl bezeichnet worden). Sodann aber habe er „das kleine Bisserl nebenbei“ vor allem auch deshalb genommen, weil ihm die Chefin B. seit vier Monaten das Gehalt schuldete – er hätte monatlich 3.000 Mark netto und dazu 1.000 Mark schwarz bekommen sollen. Auch beim übrigen Personal sei die Pächterin mit den Löhnen weit im Rückstand gewesen.

Zu dieser misslichen Geschäftslage sei es gekommen, weil „aus allen Löchern jeder genommen hat“. Frau B. und ihre zahlreichen Familienangehörigen hätten laufend so viel Bargeld aus der Kasse genommen, dass am Abend keine „Moneten“, sondern nur noch „Zetterl“ abgerechnet werden konnten. Außerdem habe man auf ihre Anweisung hin täglich viele Bierfahrer, Handwerker und „Herren von den Behörden“ freigehalten. Und im Fasching allnächtliche Gesellschaften mit bis zu hundertfünfzig Narren einschließlich des Prinzenpaares. Und dann seien oft nuch noch die Weißwürste geplatzt, einmal ein ganzer Kessel voll mit zweihundert Stück.

Was weiter geschah

Am 20. Februar 1985 erging das Urteil: Zweieinhalb Jahre Gefängnis für M., ein Jahr und vier Monate für Margot G., schuldig in allen Anklagepunkten. Im Oktober erhöhte eine Wirtschaftskammer das Urteil um zwei Wochen und 4.500 Mark Geldstrafe, während das „Donisl“ alsbald in aller Stille und in neuem Stil wieder aufmachte. Ob von der Prozess-Serie, über die halb Deutschland lachte, eine verheerende oder gar eine werbende Wirkung ausging, wollte der Brauerei-König Josef Schörghuber durch einen gestaffelten Neustart testen. Erst nach fünf Tagen „stiller Zecherei“ wurde das Lokal mit vielen Ehrengästen und lauter Blasmusik offiziell wiedereröffnet. Der neue Wirt Karl-Heinz Wildmoser1 wollte die Tradition so richtig pflegen. Seine neunzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ließ er in Dirndl oder Lederhosen aufmarschieren. Bierpanscherei, Unterschank, unverschämte Abrechnungen waren fortan unterbunden, dafür sorgte schon die „modernste Zapfanlage der Welt“, die den Preis gleich mit einspeichert.

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1 K.-H. Wildmoser wurde im März 2004 zusammen mit seinem Sohn unter Korruptionsverdacht festgenommen.


Karl Stankiewitz, Weißblaues Schwarzbuch. Skandale, Schandtaten und Affären, die Bayern erregten, München 2019, 226 ff.

Überraschung

Jahr: 1985
Bereich: Lebensart

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