Materialien 1986
Interview zur Entstehung der „Mütter gegen Atomkraft“
Teilnehmer: Gunhild Paaske (Dänemark) mit Cornelia Blomeyer, 1987
Gunhild Paaske:
Frau Blomeyer, Sie waren bei der Gründung der „Mütter gegen Atomkraft“ sehr aktiv. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Cornelia Blomeyer:
Auslöser meiner Aktivitäten war das Reaktorunglück in Tschernobyl am 26. April 1986, die Aus-
wirkungen auf uns hier in Süddeutschland und die Reaktion von Politikern und Behörden auf diese Katastrophe. Wir wurden damals von Gefahren der radioaktiven Wolke nicht gewarnt, es gab keine Verhaltensmaßnahmen zu unserem Schutz: Wir gingen spazieren, ließen die Kinder im Freien spielen, viele wurden am 30. April 1986 von starken Regenfällen überrascht und so kontaminiert. Die Bedrohung wurde von den bayerischen Politikern heruntergespielt, es gab auch Anweisungen, Informationen darüber zurückzuhalten.
Im Gespräch mit ein paar Frauen in meinem Bekanntenkreis, die diese Situation – wie ich – be-
drückend und individuell nicht lösbar erlebten, entstand die Idee, dies auch öffentlich zu zeigen.
Der Muttertag bot sich als Anlass an, unsere Wut, Angst und Ohnmacht nach außen zu tragen und zu demonstrieren, dass wir mit der praktizierten Atompolitik nicht konform gehen. Drei Tage lang telefonierten wir mit der Botschaft: Wir treffen uns am Sonntag am Münchner Marienplatz, bringt Eure strahlenverseuchten Muttertagsblumen mit und sagt es weiter …
Das Schneeballsystem griff, wir waren etwa 1.000 am Marienplatz, legten die Blumen auf dem Pflaster in einem Strahlenzeichen aus, ein paar improvisierte Reden wurden gehalten und Flug-
blätter mit Unterschriften verteilt, die zum Ausstieg aus der Atomenergie aufforderten.
Presseberichte mit den Telefonnummern der Veranstalterinnen lösten eine Welle von Anrufen bei uns aus: Alle erwarteten plötzlich etwas von uns: Strahleninformationen, Ernährungstips, psycho-
logische Hilfe.
Um diese Situation organisatorisch in den Griff zu bekommen, erstellten wir Informationsblätter, bildeten Stadtteilgruppen und gründeten Anfang Juni 1986 den Verein „Mütter gegen Atomkraft“.
Gunhild Paaske:
Wie hat die Bevölkerung reagiert?
Cornelia Blomeyer:
Vor allem Frauen mit kleinen Kindern reagierten mit großen Ängsten und Verunsicherung. Die Frage: „Was kann ich meinem Kind noch mit gutem Gewissen zu essen geben“ war zu einem zen-
tralen Thema geworden. Wir sammelten aktuelle Informationen über die Belastung von Milch und Babynahrung, empfahlen vorübergehend H-Milch als Alternative, organisierten Milch von Bauern, die bereit und in der Lage waren, Kühe mit Heu vom Vorjahr zu füttern und organisierten Trocken-
magermilch aus EG-Beständen.
Darüber hinaus setzten wir uns dafür ein, kontaminierten Klärschlamm nicht wieder in den Er-
nährungskreislauf zu bringen und bemühten uns um das Auswechseln städtischer Sandkästen, beides mit mehr oder weniger Erfolg.
Von Anfang an gaben wir zu den „Soforthilfen“ Anregungen für Energieeinsparung und alternative Energieversorgung. Bis Ende des Jahres traten wir mit verschiedenen Veranstaltungen an die Öffentlichkeit, organisierten Infostände, Mahnwachen, beteiligten uns an Demonstrationen (auch in Wackersdorf) und lösten das Versprechen vom Muttertag ein, die gesammelten Unterschriften (es waren inzwischen 60.000) mit einem Forderungskatalog der Bundesregierung zu übergeben.
Gunhild Paaske:
Ihre Tochter hat auch aktiv bei den Aktionen mitgewirkt. Können Sie ein Beispiel geben?
Cornelia Blomeyer:
Ja, meine Tochter war damals 9 Jahre alt und hat diese Geschichte sehr intensiv mitbekommen, die ständigen Verbote: nicht sandspielen, nicht in der Wiese wälzen, dies und jenes nicht essen … Sie hat auch an einer großen Eltern-Kind-Demonstration in München teilgenommen und trug dabei einen Kittel mit einem selbstgemalten Schaf darauf, das sagte: „Was kann ich noch essen?“ Und auf der Rückseite waren Kinder gemalt, die aus dem Fenster guckten und riefen: „Wo sollen wir spielen?“
Gunhild Paaske:
Warum heißt die Organisation nicht „Eltern gegen Atomkraft?“ Schließen Sie die Männer aus?
Cornelia Blomeyer:
Der Begriff „Mütter“ hat für uns eher symbolische Bedeutung: Mutter Erde, Mutter als lebenstra-
gendes Element. „Mütter“ war für uns deshalb naheliegend, weil zu Beginn der Bewegung vor allem Mütter mit uns Kontakt aufgenommen haben, aus Sorge um ihre Kinder, auch wegen innerfamiliärer Schwierigkeiten. Es bestand oft der Vorwurf, die Frauen seien hysterisch oder zumindest übervorsichtig, was sich aber im Lauf der Zeit änderte, als die Männer auch durch die Medien zunehmend mitbekamen, dass die Sache so harmlos, wie behauptet wurde, doch nicht war.
Wir schließen Männer keineswegs aus, sie können Mitglied werden, in Stadtteil- oder Fachgruppen mitarbeiten, im übrigen sind ja auch Frauen ohne Kinder willkommen – jeder, der sich für die Ab-
schaffung’ der Atomindustrie einsetzt,
Gunhild Paaske:
Wie betrachten Sie die Arbeit Ihrer Organisation im Rahmen der Antiatombewegung?
Cornelia Blomeyer:
Es gibt ja seit einigen Jahren in Deutschland Bürgerinitiativen gegen Kernkraftwerke, die z.T. auch erfolgreich waren. Dass wir es bei der Nutzung von Kernenergie mit einer riskanten Technologie zu tun haben, ist ja eigentlich bekannt, aber so richtig wahrhaben wollten wir’s wohl nicht, denn das Erstaunen und der Schreck war schon sehr groß, als wir die Folgen eines Unfalls ganz konkret zu spüren bekamen. Die „Mütter gegen Atomkraft“, die Frauen und Männer, die dort organisiert sind, waren größtenteils vorher in keiner politischen oder umweltorientierten Organisation tätig. Ich glaube, wir haben viele Leute aktiviert, die erstmals gemerkt haben, sie müssen über ihr Privatle-
ben hinaus aktiv werden, sich einsetzen für ihre Umwelt und die Lebensbedingungen nachfolgen-
der Generationen.
Gunhild Paaske:
Frau Blomeyer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Mütter Courage. Zeitung der Mütter gegen Atomkraft e.V. 3 vom Oktober 1994, 3 f.