Materialien 1986
Sommer
RADIOAKTIVITÄT lockert, erwartbar, auch so manche Schraube. Der CDU-Angehörige und allzeit maßlos moralprunkende Fernsehschaffende Dr. Franz Alt, früher schon einmal eindrucksvoll da-
durch aufgefallen, dass er der >Brigitte< verriet, nicht seine Frau sei schwanger, sondern seine Frau und er seien es gemeinsam; — derselbe Dr. Alt machte sich kürzlich abermals für ein neues Kinddenken stark, indem er seinem Kanzler Kohl via einen langen und »Offenen Brief« steckte, dass »Kinder in diesen Wochen« — nach Tschernobyl — »in Angst und Schrecken leben«.
In einem Offenen Brief – diesem hier – appelliere ich, auf die Gefahr hin, völlig richtig verstanden zu werden, an den Katastrophendenker und Wichtigkeitscrack Dr. Alt: Er möge a) bei seinen öf-
fentlichen Korrespondenzen den Verstand nicht schon in der Betroffenheitsgarderobe abliefern; und b) mir ein einziges, von »Angst und Schrecken« gebeuteltes Kind vorweisen. Schafft er das, spinne ich. Bringt der Streitliche keins auf die Beine, sollte er künftig seine Schwer-Appelle drei bis acht Sekunden länger überlegen.
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In einem verwandten Zusammenhang, dem einer kürzlichen Anti-Atom- und sog. »Zwergerl«-De-
mo von 4.000 Kindern in München, sprach F.J. Strauß laut >Welt am Sonntag< von »verabscheu-
ungswürdiger Manipulation an jungen Menschen«.
Daß z.B. Grüne ihre Kindlein für ihre und sei’s humanitärsten Absichten sehr pathetisch und quasi schicksalsverbandsstrategisch einzuspannen pflegen, das fiel z.B. schon beim großen Bonner Rake-
tengeplapper vom 23.11.1983 übelst auf. Und verdiente hin und wieder den biblischen Mühlstein an den Hals, ebenso wie Strauß der Balken vorm eigenen Auge splittern möge; denn Manipulation an jungen Menschen betreibt er seit 40 Jahren in bester Manier selber. Aber freilich, gerade weil er was davon versteht, hat er, wo er recht hat, leider recht.
Ganz abgesehen davon, dass eine »Zwergerl«-Demo auch noch auf affektierteste Links-Folklore hinausläuft, kurz auf Kitsch …
Eckhard Henscheid im Zeit-Magazin
Eckhard Henscheid, Polemiken, Frankfurt am Main 2003, 325 f.