Materialien 1986
Haus 12, Haar
Ich kenne Haus 12 ziemlich gut. Seitdem ich 1979 aus Haar entlassen wurde, war ich seitens mei-
nes Bewährungshelfers und Vormunds genötigt (weil ja die Führungsaufsicht 5 Jahre dauert), „freiwillig“ auf Haus 12 zu gehen, für einige Zeit, weil es sonst schlimmere Konsequenzen für mich gehabt hätte: nämlich Bewährungswiderruf.
Seit ca. gut 10 Jahren besteht Haus 12. Jeden Tag kommen die „Rettungswagen“ vom Roten Kreuz oder anderen Organisationen und bringen Leute zur Aufnahme. Mitunter sind auch Suizid-Ver-
suchs-Fälle dabei; aber auch Leute, die für einige oder längere Zeit verwahrt werden, sofern letzte-
re nicht sofort auf die „Burg“ oder Haus 5 kommen.
Im Haus 12 sind Labor, Röntgen, EEG, EKG, Computertomographie, Zahnarzt, Internist, eine klei-
nere chirurgische Station und eine Suchtabteilung eingerichtet. Das Hochhaus Haus 12 hat 6 Stockwerke und mit Parterre 13 Stationen, jeweils A oder B, links und rechts. Jede Station hat einen sogenannten Wachbereich, wo man zuerst hineinkommt bei der Aufnahme. Jede Station hat ein „Isolierzimmer“, in dem die Patientinnen oder Patienten zumeist gefesselt (fixiert) werden (auch im Wachbereichsschlafzimmer). Also, die Stationen vom Haus 12 sind zum großen Teil ge-
mischte Abteilungen mit Männern und Frauen. Außerdem hat jede Station 2 Monitor-Zimmer, wo die Patienten per Fernsehkamera beobachtet werden. Diese Installationen sind zum großen Teil reine Spionage- und Spielzeug-Installationen, weil diese Patienten rechts und links in dem Moni-
tor-Zimmer sowieso kaum Beobachtung benötigen. Hingegen bei den zwei Wachbereichs-Zim-
mern plus Isolierzimmern lässt man oft die Jalousie herunter, damit man nichts sieht etc. Die Tü-
ren sind geschlossen, also auch hören kann man da kaum etwas. Die Psychiatrieschwestern und -pfleger gehen nachts ab und zu mit der Taschenlampe in die Zimmer und schauen nach. Die übri-gen Zimmer sind 2-Bett-Zimmer auf den Stationen.
Einige Zeit nach der Aufnahme wird man von einem Psychiater untersucht. U.a. muss man bei ge-
schlossenen Augen auf die Nasenspitze mit dem Zeigefinger tippen. Auf einigen Stationen, wo die Ärztinnen oder der Arzt ist, wird selbst nach mehrmaligem Klopfen die Türe nicht geöffnet, egal, was für ein Anliegen man hat. Oft ist alles auf die tägliche Visite beschränkt. Außerhalb der Visite sind die Ärzte fast nie zu sprechen. Und schlimm ist es, wenn jemand nach Feierabend, also abends, nachts, den Arzt sprechen möchte.
Hier ein Beispiel: Auf der Station 5 A erlebte ich folgendes: Ein junges Mädchen bat die Schwester abends höflich um eine Schlaftablette , weil sie nicht schlafen konnte. Die Psychiatrieschwester sagte ihr, sie bekäme nichts. Hierauf bat das Mädchen, den Arzt vom Dienst zu holen. Das kommt nicht in Frage, entgegnete die Haarer Schwester und schubste das Mädchen mit Gewalt auf dem Gang entlang. Solche Gemeinheiten sah das Mädchen nicht ein und schubste die Schwester zurück. Jetzt kam die „Haarer Psychiatrie“ erst richtig in Gang. Sie, die zuerst angefangen hatte mit Hand-
greiflichkeiten, lief ans Telefon und verständigte den Psychiater und Pfleger: „Das Mädchen ist aggressiv geworden, und es muss fixiert werden!“ Welch Wunder, prompt waren Psychiater und Pfleger zur Stelle und fesselten das Mädchen ans Bett. Ich sah das alles selbst. Ich bat den Psychia-
ter: „Darf ich Sie bitte sprechen?“ Dieser sagte nur gemein: „Das geht nicht!“ Ich wollte ihm näm-
lich den wahren Sachverhalt erklären. Haarer KZ dachte ich mir, die sind ja manchmal schlimmer als Tiere.
Dieselbe Psychiatrieschwester, die das Mädchen ans Bett ‘fesseln ließ, wollte mir einmal, während ich am Tisch beim Abendessen saß, mit einem Schnabelschälchen die Tabletten in den Mund schütten, ich sagte: „Bitte nach dem Essen!“ Darauf die freche Schwester: „Ausg’schamts Manns-
bild!“ und weiter: „Wenn Ihnen was nicht passt, dann können Sie wieder nach 5 B hinübergehen“, wovon ich ohne meinen Willen verlegt wurde. Alsbald kam ich zurück. Einmal war ich so müde, als ich mittags von der Arbeit kam und bat das Zimmer aufzusperren, damit ich in der Mittagspause etwas schlafen konnte. Die Psychiatrieschwester öffnete das Zimmer nicht. Ich sagte darauf zu den Schwestern: „Ihr KZ-Weiber!“ Darauf ging ich zur Ärztin und bat diese höflich, das Zimmer aufzu-
sperren. Die Ärztin sagte nur: „Sie sehen, dass wir jetzt Visite haben!“ Meine Reaktion war: „ Ihr seid ein KZ; aber kein Krankenhaus!“ Darauf die Ärztin: „Wenn Sie nicht höflicher werden, dann werden Sie auf Haus 5 verlegt und nicht entlassen!“
Die Stationen auf Haus 12 sind im Prinzip alle gleich aussehend: 4 Ecken, davon eine Ecke als Rau-
cherecke, und ein U-förmiger Gang: von der Eingangstüre aus gesehen. Belüftung erfolgt jeweils rechts und links der Ecken durch Kipp-Fenster und der einen Spalt geöffneten Verandatüre, wo aber zumeist Zugluft entsteht. In den Toiletten sind keine Fenster (Der Trend des Modernen) und es kommt kaum frische Luft hinein.
Die Patienten müssen oft wochenlang nach Psychopharmakazwang warten, bis sie zu einem Spa-
ziergang von der Station wegdürfen. Es gibt auch eine abgeschirmte Dachterrasse, aber auf der darf Herr Direktor scheinbar nur allein mit seinen Füßen über den Köpfen aller Patienten von Haus 12 „schweben“. Kein Wunder, wenn sich nach so langer Ausgangssperre Kopfschmerzen und Verdau-
ungsbeschwerden einstellen. Kopfwehtabletten oder Abführmittel gibt es aber so quasi überhaupt keine.
Der Psychiatrie-Pfleger Domscheidt ist ein Musterbeispiel, wie man die Patienten hasst. 1. Er gibt keine Scheibe Brot außerhalb der Essenszeiten heraus. 2. Er belehrt alle: „Am Bettenbau erkennt man den Krankheitsgrad der Patienten!“ 3. Er droht den Patienten dauernd und macht es auch wahr, mit Verlegungen nach Haus 6, dem nach der Burg gleichberüchtigten Haus, neben der ka-
tholischen Anstaltskirche, wo Patienten fast immer sofort an das Bett gefesselt und gespritzt wer-
den, und ohne Sauerstoffzufuhr ins Bad oder in eine Zelle gebracht werden. Gleich neben dem Haus 6 landet nicht selten ein Hubschrauber und holt die so malträtierten Patienten ab in ein Krankenhaus. Ja, so „modern“ ist Haar!
Zuerst werden die Patienten gequält, angebunden und gespritzt und wenn sie kurz vorm Abkratzen sind, kommt eventuell der Rettungs-Hubschrauber, der dann alle Mühe hat, den katholischen Kirchturm nebst Kreuz neben Haus 6 nicht wegzurasieren.
Die 2 katholischen Anstaltspfarrer sind vom Wesen her eigentlich sehr nett und geben auch mora-
lische Unterstützung (auch ein evangelischer ist in Haar, den kenne ich aber nicht). Aber ändern tun sie nichts, oder können sie nichts ändern? Da wird in der Kirche die heilige Messe gelesen und 60 Meter weiter schreien Menschen um Hilfe. Ja, selbst wenn man die Hilfeschreie in der Kirche hören würde, die Pfarrer würden es nicht ändern (können).
Zurück zu den Stationen von Haus 12. Es herrscht Kaffee-Verbot, natürlich absolutes Alkohol-Verbot (mit Ausgangssperre bedroht). Nur das Rauchen lässt man den Patienten, und auf den Stationen werden dann regelrecht „Rauchmaschinen“ produziert (auch eine Folge von Psycho-
pharmaka und Hospitalismus). Verschiedenen Patienten werden die Zigaretten eingeteilt, und wenn so ein Patient eine Zigarette will, muss er darum betteln.
Wer nicht in die Arbeits-Therapie geht, bekommt zumeist keinen Ausgang, und er ist dann ständig eingesperrt. Mit dem Eigentum nimmt es das Haarer Personal scheinbar auch nicht so genau. Ob es das Essen anbelangt, oder ob es nur gesammelte Flaschen von Patienten sind, die man ihnen vorsorglich wegen evtl. „Gemeingefährlichkeit“ weggesperrt hat. Die vielen gesammelten Leergut-Flaschen ergeben dann jedenfalls ab und zu das Geld für Bohnenkaffee für das Personal. Und das Personal sitzt nun einmal gern beim Kaffee, am liebsten stundenlang. Hat ein Patient während der Personal-Kaffee-Pause ein Anliegen, heißt es: „Jetzt geht es nicht!“
Ausgang ist auf Haus 12 bis 18.30 Uhr. Will jemand nach 18.30 Uhr telefonieren, so darf er das nicht, weil er „Zeit hat“, bis abends zu telefonieren. Kein Patient wird nach halb sieben Uhr mehr aus der Station gelassen, gleich welches Anliegen er hat. Man denkt dann manchmal, am liebsten möchte man abhauen aus Haar, weit weg! Aber wohin, ohne Geld und Wohnung?
Die „Herren und Damen von der Herrschaft“, die Kommandierenden, wissen sehr wohl, dass man Patienten nicht viel verdienen lassen darf, denn den Armen könnten ja Flügel wachsen, und die Anstalten wären dann leer! Die paar Pfennige, die man in Haar für Arbeitsleistung erhält, reichen nie aus, und niemand scheut sich zu betteln, sei es nur um eine Zigarette. Da muss man schon eine Rücklage, Krankengeld, Hilfe von außerhalb haben, wenn man sich etwas kaufen will usw. Für „leichtere Fälle“ kann eventuell vom Bezirk Oberbayern ein monatliches Taschengeld auf Antrag gewährt werden. 3.000 Mark im Monat sind die Kosten für einen Patienten im Bezirkskranken-
haus Haar. Zum Teil zahlt die Krankenkasse, die Versicherung, der Patient selbst, oder der Staat (Bezirk Oberbayern). Und wäre nicht die „segensreiche Psychiatrie“, dann gäbe es noch mehr Ar-
beitslose …
Was mir besonders auffiel: Bei fast dem gesamten Psychiatrie-Personal merkt man so richtig, wie sie herrschen wollen. Die Patienten machen sie mit den Psychopharmaka mundtot, ganz klein wie eine Ameise, auf die sie nur zu treten brauchen, es aber angeblich gar nicht wollen. Ob das ein Handwerker von Haar ist, oder Psychiatrie-Pflegepersonal. Alle haben nur eines im Kopf: Die sind schwer krank und wir gesund und auserwählt, sie zu heilen. So wundert es mich nicht, wenn zum Beispiel auch ein Ausländer eines Tages zu schimpfen anfing: „Ihr Nazis, fresst euren Dreck selbst!“ Es dauerte nicht lange, dann war er auf Haus 5 „zur Kur“.
Ja, Haar ist auch international: Ein Neger zittert mit den Händen und ist nicht fähig, sich eine Zi-
garette zu drehen, dafür drehte ich sie ihm. Aber er hatte zuviel Angst, auf Haar zu schimpfen, weil … usw. … er sonst eine höhere Dosis Haldol oder Glyaminon bekommt und nicht entlassen wird. Ja, ohne ein Mindestmaß an Kompromissbereitschaft wird man auch gar nicht entlassen aus Haar! Man sagt danke zu dem Giftzeug und schluckt es unter Aufsicht. Man tut so, als müsste man stän-
dig dankbar sein für die „Wohltaten“, die einem zuteil werden, und als wäre zumindest an Ort und Stelle alles in Ordnung. Ja, früher hat man die Menschen auch in Haar schnell umgebracht und sogar Kindern Gift in das Essen gemischt, damit sie am Morgen tot im Bett lagen! Heute macht man alles raffinierter etc. Auch u.a. Abtreibungen in der Psychiatrie werden veranlasst, und Mäd-
chen und Frauen werden sterilisiert. Ob die katholische Kirche das nicht interessiert? Ich glaube schon, aber sie tut nichts dagegen.
Zurück zum Tages- und Nachtgeschehen auf den Stationen von Haus 12. Alles wird im Berichtbuch festgehalten, und das Negative überwiegt immer. Hat einer Husten oder Erkältung, bekommt er keinen Hustensaft, wenn nichts verordnet ist. Es heißt dann einfach, hören Sie das Rauchen auf etc. Außerhalb der Essenszeiten werden auf manchen Stationen Hagebuttentee und Pfefferminztee bereitgestellt. Oft wird einfach, um Zucker einzusparen, das gesundheitsfeindliche Saccharin (Süß-
stoff) verwendet, manchmal mit der Begründung, es sei ein Diabetiker auf der Station. Nachts, wenn einer Erkältung, Grippe oder Husten hat, bekommt man fast nie einen warmen Tee. Die Nachtschwestern stricken, häkeln, lesen und telefonieren. Sich selbst macht das Personal in der Küche schon, was es braucht, dazu sind sie nicht zu faul!
Bei meiner Entlassung öffnete ein neugieriger Patient das Arztschreiben an den weiterbehandeln-
den Arzt. Darin stand, dass ich zwar gutmütig sei, aber meine Tachykardie-Herzanfälle nur vortäu-
sche, um eine Dosis-Reduzierung zu erreichen. Welche Gemeinheit! Tatsächlich bekomme ich von den Spritzen Herzanfälle und muss deshalb ein Gegenmittel, nämlich Melleril nehmen. Anfangs wollte mir Frau Dr. Hornung Haldol geben, wie sie sagte. Das hätte zur Folge gehabt, dass ich alle 3 bis 4 Tage einen Herzanfall bekommen hätte, also wählte ich mit Nachdruck (weil ich ja ge-
zwungen wurde) das geringere Übel. Eines Tages gab mir Frau Dr. Hornung von Station 5 B noch eine höhere Dosis Melleril und ging nicht mehr davon herunter. Möchte noch bemerken, dass viele Psychopharmaka, auch speziell Melleril, zur Zeit der Einnahme weitgehend impotent machen.
Na ja, sogenannte Geisteskranke, wie sich die Psychiatrie-Angestellten wohl denken müssten, brauchen ja keine Gefühle …
Hans-Peter Hame, „Burg“ in Haar
Türspalt. Psychiatriezeitung 11/1986, 79 f.