Materialien 1987
+++Stop+++Wackerdorf+++Stop+++Wackersdorf+++Stop+++
Deutschland, ein Wintermärchen
Berliner Bereitschaftspolizisten demonstrieren Bürgerkriegsmethoden bei Festnahmen von WAA-Gegnern in Kronstetten.
Freitag früh, fünf Uhr, Hahnenschrei über Schwandorfs Stadtteil Kronstetten, drei Kilometer von Wackersdorf entfernt. Ein Wecker schrillt in der Scheune des Anwesens in der Tannenstraße 44. Es raschelt im Stroh, Schlafsäcke werden zusammengerollt, leise Gespräche. Junge Leute ziehen schwarze Lederjacken über und treten auf den Hof. Nebel und Halbdunkel. In der Garage riecht es nach Kaffee. Über achtzig AKW-GegnerInnen machen sich auf den Weg zur Blockadeaktion auf der B 85 bei Heselbach.
Plötzlich schreit jemand über den Hof: „Die Bullen kommen!“ Sieben Mannschaftswagen der Berliner Bereitschaftspolizei, Einheit für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training (EBLIT), sperren die Straße vor dem Bauernhof. Sekunden der Ratlosigkeit. Eine handvoll Leute verschwindet geistesgegenwärtig in den Feldern hinter dem Anwesen. Polizisten postieren sich an allen Ein- und Ausgängen, Polizisten mit weißen Schutzhelmen, mit Mundschutz, schußsicheren Westen, Lederbandagen bis zu den Knien, langen Gummiknüppeln, Messern, Gasflaschen. Über Megaphon gibt der Einsatzleiter (Dienstnummer 99739, Polizeipräsident Berlin) mit ruhiger Stimme Auskunft, dass es sich um eine ganz gewöhnliche Kontrolle handle. Die psychologische Linie ist von Anfang an deutlich: der Einsatzleiter agiert freundlich, beruhigt, lächelt. Seine martialisch ausstaffierten Beamten übernehmen den aggressiven Part.
Um sieben Uhr erklärt die Polizeiführung plötzlich, dass alle Anwesenden nach Artikel 16 des Polizeiaufgabengesetzes (PAG) in vorläufigen Sicherheitsgewahrsam genommen werden. „Beine auseinander, Hände über den Kopf!“, mit diesen Worten zerren Polizisten zuerst die Männer einzeln an den Bus. Geht es nicht schnell genug, schlagen sie die Festgenommenen mit dem Kopf an die Wand, ziehen an den Haaren, verdrehen die Arme. Um zehn Uhr sitzen neunundvierzig Männer und vierundzwanzig Frauen in zwei Polizeibussen. Zwei Stunden lang sind sie bei herbstlicher Kälte unter dem Vorwand der Personalienkontrolle eingekesselt worden.
Die Szene-Musiker „Ton, Steine, Scherben“ wussten es schon vorher: „Und die deutlichen Beweise sind zehn leere Flaschen Wein, und zehn leere Flaschen können schnell zehn Mollis sein.“ Im Polizeiprotokoll erscheinen Taschenmesser zum Brot- und Käseschneiden als Hieb- und Stichwaffen. Leere Flaschen, Stofflappen, Klebstoff, leere Kanister – selbstverständliche Gegenstände auf einem Bauernhof – werden als Indizien für eine Bombenwerkstatt herangezogen, die Disketten für einen Anrufbeantworter als Störsender.
Am Freitagnachmittag entscheiden Amtsrichter in Amberg, Regensburg und Schwandorf die Fortsetzung des Sicherheitsgewahrsams für die dreiundsiebzig AKW-GegnerInnen bis Samstagabend, 18 Uhr. Begründung: möglicher Besitz von Molotowcocktails und potentielle Bereitschaft zur Gewalt.
Die Festgenommenen legen gegen diesen Beschluss sofortige Beschwerde beim Landgericht in Amberg ein. Sie sind sprachlos, wütend, entsetzt: „Es gab auf dem Hof in der Tannenstraße 44 keine Molotowcocktails und keine Waffen. Polizei und Gericht hatten es darauf angelegt, unsere Teilnahme an den Blockadeaktionen am Freitag und an der Großdemonstration am Samstag zu verhindern, und zwar mit allen Mitteln, mit brutalem Polizeieinsatz und mit konstruierten Anschuldigungen. Wir sind interniert worden.“ Am Samstagabend revidiert das Landgericht Amberg die Entscheidung der ersten Instanz. Die Ausweitung des Sicherheitsgewahrsams sei nicht statthaft gewesen, die Indizien für die Existenz von Molotowcocktails nicht ausreichend. In dem gerichtlichen Bescheid heißt es weiter, der pauschale Verdacht gegenüber allen AKW-GegnerInnen als potentielle Gewalttäter sei in dieser Form nicht tragbar. Die Festgenommen, die für zwei Tage in sogenanntem Sicherheitsgewahrsam in der Justizvollzugsanstalt Amberg, im Frauengefängnis in Regensburg und der BGS-Kaserne Nabburg saßen, planen nun weitere gerichtliche Schritte gegen die Festnahme und den „unvergleichlich brutalen Einsatz der Berliner Bullen“.
Eine junge Frau rekapituliert die Ereignisse von Freitagmorgen bis Samstagabend: „36 Stunden Zeit für Alpträume … Stunden damit zugebracht, auf dem eisernen Spind zu hocken und in einen blauen Himmel über grauen Mauern hinter vergitterten Fenstern zu starren … Zeit für Ängste vor einem Repressionsapparat, in dem ein Rädchen ins nächste greift: Polizei, Justiz, Knast … Der Traum vom Rechtsstaat ist ausgeträumt …“
Die beinahe fünfstündige Fahrt von Kronstetten über die Landstraße nach Regensburg mit Stationen in Amberg und Nabburg wird für die vierundzwanzig Kernkraftgegenerinnen unter dem „Begleitschutz“ von sechs Berliner Polizisten zur Hölle:
An ihren Gummiknüppeln klirren Anhänger mit der Aufschrift „Gewalt, nein danke!“ Hohn? Perversion? Auf Nachfrage bescheinigt ein Polizist: „Ironie!“. Die Beamten, die der Grünen-Abgeordnete Wolfgang Daniels als „Totschlägertrupps aus Berlin“ bezeichnete, geben während der Busfahrt eine Probe von ihrem Ironieverständnis: 10.30 Uhr. Halt in Amberg. Die 23jährige Sozialarbeiterin erhält von ihrer Nachbarin ihren Autoschlüssel. Seelenruhig greift ein Polizist zu und wirft den Schlüssel aus dem Bus. Daisy fragt fassungslos, was diese Schikane solle. Anstatt einer Antwort erhält sie einen Faustschlag frontal ins Gesicht. Blut läuft aus ihrem Mundwinkel. Christa, die den Beamten anschreit, mit der Schlägerei aufzuhören, stößt er gegen die Fensterscheibe. Wie üblich, ist von dem Beamten weder sein Name noch seine Dienstnummer zu erfahren, um eine spätere Strafverfolgung zu verhindern. Der Berliner Polizist stellt sogar gegen Daisy Anzeige wegen Körperverletzung. Die zierliche Frau, die in der zweiten Reihe am Fenster saß, soll den 1,90 Meter großen Mann mit Lederbandagen bis zu den Knien, getreten haben. Den Versuch, sein Verhalten durch Strafanzeigen abzusichern, setzt er auch bei Christa fort: auf der Polizeidienststelle Regensburg wirft er ihr Widerstand gegen die Staatsgewalt vor. „Einschüchterung, Brutalität, Rechtsverdrehung. Das kennzeichnet die Berliner Polizeitruppe“, erklären die Frauen.
SPD und Grüne haben den WAA-Polizeieinsatz eine Woche später im bayerischen Landtag eingebracht. Wolfgang Daniels kündigt beim Regensburger Polizeipräsidenten eine Dienstaufsichtsbeschwerde an. Im Zusammenhang mit dem Auftreten der Berliner Beamten, die ihren Einsatz als „Rache für Pfingsten“ angekündigt hatten, spricht er von einem „von der Polizei eingeleiteten Bürgerkrieg“. Die Opposition fordert die Einberufung eines Untersuchungsausschusses im Landtag. Vergeltung wollen auch andere: Am Mittwoch, dem 15. Oktober, verübten Unbekannte einen Sprengstoffanschlag auf das Haus des Berliner Chefs des Spezialeinsatzkommandos (SEK) Manfred Textor. In der Nähe liegen Flugblätter mit der Aufschrift „Rache für die Knüppeleinsätze der Westberliner SEK-Bullen in Wackersdorf – WAA nie!“ Irrtum mit Sachschaden: Aus Westberlin war nämlich nicht das SEK im Einsatz, sondern die EBLIT.
Für dreiundsiebzig KernkraftgegnerInnen endete der Versuch, ihr Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und Demonstrationsteilnahme wahrzunehmen mit zwei Tagen Gefängnis …
Gruß an Heinrich Heine: „Deutschland, ein Wintermärchen.“
Kati
Haidhauser Nachrichten 11 vom November 1987, 6.