Materialien 1987

Rund um die Volkszählung

Ein „sensationell gutes“ Urteil hat die 17. Kammer des Verwaltungsgerichts München im Fall des Straßentheaters am Richard-Strauss-Brunnen (SZ berichtete) nach den Worten des Rechtsanwalts der Veranstalter, Hartmut Wächtler, gefällt Die Stadt ließ den Informationsstand am 13. März räumen, unter anderem deshalb, weil dort ein Transparent entrollt wurde, das zum Widerstand aufrief: „Nur Schafe lassen sich zählen“ war darauf zu lesen.

In der schriftlichen Begründung des Urteils heißt es, das Verbot der Versammlung sei nicht verhältnismäßig gewesen. Die Anmeldung betreffe eine Versammlung, „in der durch szenische Darstellung an den durch die Volkszählung angesprochenen Fragen Kritik geübt worden sei“, „Kritik erfüllt noch nicht den Tatbestand der Aufforderung zum Boykott“, hieß es. Auch das Transparent stelle keine Aufforderung zum Boykott dar. Eine Gefährdung durch die Veranstaltung sei nicht wahrscheinlich gewesen, da man von einer „Gefährdung“ nur sprechen könne, wenn ein Schaden mit Gewissheit eintreten würde. Die Erklärungen der Veranstalter seien glaubhaft.

Am kommenden Montag sollte das Straßentheater wieder am Richard-Strauss-Brunnen aufgeführt werden. Mit der Begründung, auf dem Informationsstand sei das Buch „Vorsicht Volkszählung“ verkauft worden (das übrigens überall in der Bundesrepublik erhältlich ist), will die Stadt die Veranstaltung verhindern. In der Verbotsbegründung zitiert die Stadt mehrere Seiten aus dem Buch und stellt fest, daß gegen das Werk ein bundesweites Ermittlungsverfahren laufe. Der Verkauf dieses Buches sei „eine Teilnahme am Boykott“, die das Verbot rechtfertige.

Rechtsanwalt Hartmut Wächtler stellte fest, die Stadt München mache sich mit diesem Verhalten lächerlich, „obwohl die ganze Angelegenheit nicht zum Lachen ist“. Wächtler versuchte gestern noch durch eine Aussetzung des Verbots die Veranstaltung zu retten.

Nach Auffassung der Stadt München ist das Verbot durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts dagegen inhaltlich bestätigt worden, man werde abwarten, ob gerichtliche Schritte gegen das Verbot eingeleitet würden.

20 Übergriffe auf Volkszähler sind bisher bundesweit gemeldet worden – in München dagegen ist alles friedlich. Wie Kriminaldirektor Josef Kirchmann vom Polizeipräsidium München in einem Gespräch mit der SZ mitteilte, ist die Einsatzzentrale auf schnelle Hilfe für überfallene Volkszähler vorbereitet. „Die Streifendichte wurde – vor allem in den Abendstunden, wenn die Zähler unterwegs sind – erhöht“, sagte er. Ein Begleitschutz wie etwa in Hamburg oder Köln sei nicht notwendig und auch nicht vorgesehen.

Informationsstände, die zum Boykott aufriefen, würden weiterhin abgebrochen werden. Die Polizeibeamten seien nicht besonders auf die Volkszählung vorbereitet worden, „ein Verdacht zum Boykottaufruf genügt uns schon, um es beim Kreisverwaltungsreferat oder der Staatsanwaltschaft zur Anzeige zu bringen. Bei den Abbruchaktionen der 40 von 70 genehmigten Informationsständen sei es zu keinerlei Zwischenfällen gekommen, die Veranstalter hätten den Anordnungen der Beamten keinen Widerstand geleistet.

Jörg Sadrozinski


Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 1987.

Überraschung

Jahr: 1987
Bereich: Bürgerrechte

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