Materialien 1987

Zum Schauen bestellt

Zum Schauen bestellt

In München haben sich die Graffiti-Sprayer organisiert. Bisher spektakulärste Aktion der „Euro-Graffiti-Union“: die Ausgestaltung einer Kirche.

Sven, 19, der sich „Katmando“ nennt, und Florian, 15, alias „Aero 1“, sind seit vier Jahren als Graffiti-Sprayer in München aktiv, erfahrene „Writer“ also. In der Szene nennt man sie respektvoll „Master“.

S-Bahn und Hauswand, schlichte Zeichen und aufwendige „Pieces“ (= große Bilder) – sie haben alles ausprobiert. Doch auch für sie war es eine neuartige Erfahrung, die sie in der letzten Juli-
Woche machten: Da besorgten sie, zusammen mit acht weiteren Sprühern, die farbige Ausge-
staltung eines Kirchenraumes.

Die – zumeist einschlägig vorbestraften – Sprayer brauchten dabei den Zugriff der Polizei nicht
zu fürchten. Ganz offiziell waren die jungen Künstler von der Pfarrei St. Elisabeth im Münchner Stadtteil Haidhausen eingeladen worden, mit der Sprühdose zur optischen Belebung des beton-
grauen Gotteshauses beizutragen; selbst das Erzbischöfliche Ordinariat hatte seinen Segen zu dem Projekt gegeben. (Die fortschrittliche Entscheidung wurde den Diözesanherren offenbar dadurch erleichtert, dass die baufällige Kirche – Baujahr 1956 – spätestens in zwei Jahren abgerissen werden soll.)

In mehreren Tagen entstand so aus der Dose ein Triptychon, das in der Mitte den Gekreuzigten und links und rechts davon sinnhafte Darstellungen für „Liebe“ und „Hass“ zeigt, garniert mit den für Graffiti typischen opulenten Schriftzügen.

Gesprüht wurde auf Gipsplatten, die anschließend in die Kirchenwand geschraubt wurden. Die Aufnahme durch die Gemeindemitglieder war, so der experimentierfreudige Pfarrer Rupert Frania („Ich halte Veränderungen für das Normalste, was es gibt“), nach anfänglicher Reserviertheit eher positiv. Allgemeiner Tenor: „Des hätt ma uns vui schlimma vorgstellt.“

Ausgeheckt hatten das Projekt Wiltrud Huml vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend, die in der Graffiti-Aktion einen Beitrag dazu sieht, „die Kirche für Jugendliche zu öffnen“, und Peter Kreuzer, Professor für Volkskunde an der Fachhochschule München und 1. Vorsitzender der Euro-
Graffiti-Union (EGU). Dieser Verband wurde – in sich eine Absurdität bei einer derart subversiven Kunstform – im Oktober letzten Jahres nach guter deutscher Vereins-Machart gegründet.

Gut 60 Sprayer sind bislang Mitglieder der Münchner Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den jugendlichen Künstlern einen legalen Untergrund für ihre sprühende Kreativität zu verschaffen. Den zweiten Vorsitz hat ein Rechtsanwalt, Konrad Kittl, der sich im Konfliktfall auch vor Gericht für Unions-Mitglieder einsetzt. Auch Florian („Aero 1“) macht mit, wenn er auch den alten Zeiten nachtrauert: „S-Bahn, das war das einmalige Erlebnis. Es gibt nichts Schöneres.“

Mit dem 3. Vorsitzenden Karsten Rothe, persönlicher Referent und Pressesprecher des Präsiden-
ten der Akademie der Bildenden Künste, haben die Graffiti-Kids einen veritablen Kunstsachver-
ständigen für ihre Sache gewinnen können. „Es gibt viele nackte Wände in der Stadt“, heißt es im Manifest der EGU, „bei Tageslicht und ohne Hast und Furcht“ sollen die Sprüher ihre Graffiti, „das Jugendkunstwerk unserer Zeit“, produzieren können. Dozent Kreuzer, der regelmäßig Vorlesungen über Graffiti hält und ein 500 Seiten starkes „Graffiti-Lexikon“ verfasst hat, verhandelt mit Firmen und Behörden, um freie Wände, Farben und, wenn möglich, das eine oder andere Honorar für seine Schützlinge zu ergattern.

Das Geld käme gelegen, „Aero 1“ zum Beispiel hat das Verzieren eines S-Bahn-Zuges nicht nur mit einer Woche Jugendarrest gebüßt. Nun soll er auch noch Schadensersatz leisten, vermutlich etliche tausend Mark, im Wiederholungsfall sogar fünfstellig, denn in Zukunft will sich die Bundesbahn nicht mehr mit der Reinigung der Züge zufrieden geben, sondern gleich neu lackieren, das käme bei einem ganzen Zug auf 96.000 Mark.

Hans Schluttenhofer, Mitglied einer vierköpfigen Sonderkommission der Bahnpolizei gegen illega-
le Graffiti, der nach eigenen Angaben „ein gutes Verhältnis“ zu den Writern hat und ein gutes Piece zu schätzen weiß, verteidigt die neue harte Linie. Mit dem Flohmarkt an der Dachauer Straße und weiteren Spraywänden an diversen Fabriken und Industrieanlagen stünden den Sprühern in Mün-
chen mittlerweile so viele legale Flächen zur Verfügung, dass sie nicht in die Illegalität ausweichen müssten: „Die Ausrede gilt nicht mehr.“ Seiner Beobachtung nach hat sich seit dem Bestehen der EGU das wilde Sprühen schon reduziert.

Die ganze Union wird mitmachen, wenn im Oktober die Münchner Oberpostdirektion zur Sprüh-
dose ruft. Eine 180 Meter lange und 2,75 hohe Einfassung umgibt Relais-Station und Verwaltungs-
gebäude in Hirblingen nahe Augsburg. Damit die Postangestellten beim Blick aus dem Fenster in Zukunft was zum Schauen haben, soll die Innenseite der Mauer in einem „edlen Wettstreit“ (Post-
direktor Helmut Doerfler) um das schönste Piece bebildert werden.

Punkt 6 in dem von Doerfler entwickelten schriftlichen Konzept: „Die Graffiti-Künstler sprühen ihre Bilder an die Wand, und die Zuschauer freuen sich darüber.“

Doch Bayern kennt seine Grenzen. Darstellungen „mit extrem sexuellem oder politischem Inhalt“ dürfen, so Doerfler, „nicht angebracht“ werden.


Der Spiegel 36 vom 31. August 1987, 186 f.

Überraschung

Jahr: 1987
Bereich: Graffiti

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