Materialien 1987

Demonstrationsfreiheit unter Mordverdacht

Rolf Gössner

Die Demonstrationsfreiheit in der Bundesrepublik steht unter Mordverdacht. Denkt man gewisse offizielle Stellungnahmen zu Ende, so werden letztlich der Demonstrationsfreiheit zwei Polizistenmorde angelastet – begangen im Zustand der »Vermummung«. Nun ist sie zur Fahndung ausgeschrieben, um sie schleunigst dingfest machen und in Zukunft noch wirkungsvoller als bisher einschränken zu können.

Die Schüsse kamen wie bestellt…

Ein langgehegtes innenpolitisches Anliegen der regierenden Unionsparteien scheint nun endlich in Erfüllung zu gehen: die »Wiederherstellung des inneren Friedens«, die zunächst von einem gestörten inneren »Koalitionsfrieden« behindert wurde. Denn die auch regierende Wende-FDP hatte gegen einige der schärfsten, bereits in der internen Koalitionsvereinbarung vom Frühjahr 1987 verankerten Regierungspläne wenigstens ansatzweise noch festliberale Skrupel anzumelden. Skrupel, die im Laufe der Monate sogar noch unversehens Auftrieb erhalten sollten: Insbesondere nach den großen und skandalösen 87er-Polizeieinsätzen in Brokdorf, Hamburg und Wackersdorf geriet das brutale polizeiliche Vorgehen zunehmend in die öffentliche Kritik.

Forderungen nach politischer Deeskalation und behutsamerem polizeilichen Verhalten fanden Zustimmung bis hinein in den Polizeiapparat. In einem Erfahrungsbericht über »Polizeieinsätze bei Großdemonstrationen« plädierte selbst ein Arbeitsstab der Innenministerkonferenz für mehr Liberalität bei Demonstrationseinsätzen statt für schärfere Gesetze.

Doch schon wenige Monate später bereiteten zwei Polizistenmorde dem sich abzeichnenden Tauwetter ein abruptes Ende. Nun scheint offenbar die Stunde der Scharfmacher gekommen zu sein. Die Morde und die darob einsetzende öffentliche Empörung werden schamlos ausgenutzt, um die zögerliche FDP massiv unter Druck zu setzen und die längst geplante Gesetzesänderungen durchzupauken.

Eine eilends vom Bundesinnenministerium organisierte und manipulierte, nichtöffentliche »Expertenanhörung« von Polizeipraktikern, überwiegend aus CDU/CSU-regierten Bundesländern, eröffnete der wende-erprobten FDP den Ausweg aus dem Dilemma: Von plötzlichen »neuen Erkenntnissen« geplagt, konnte die Tatsache des Umfallens in der Öffentlichkeit als »Lernfähigkeit« deklariert werden.

Die Schüsse an der Startbahn-West krachten also wie bestellt. Ähnlich termingerecht wie die Steinwürfe während der »Krefelder Krawalle« am 25. Juni 1985, die, wie sich erst später herausstellte, von einem V-Mann des »Verfassungsschutzes« mitinitiiert worden waren. Sie mussten prompt als Begründung für eine Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts herhalten, die kurze Zeit später durch Gesetz vom 18. Juli 1985 in Kraft getreten ist. Danach machen sich auch diejenigen Demonstrationsteilnehmer wegen »Landfriedensbruch« strafbar (bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe), die trotz Aufforderung durch die Polizei in einer Menschenmenge, aus der heraus »Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen« begangen werden, »Schutzwaffen« (»passive Bewaffnung« wie Helme) oder »Vermummungen« (wie etwa Mundtücher) nicht ablegen oder sich nicht rechtzeitig entfernen. Das bedeutet: Bereits heute können auch vollkommen friedliche Demonstrationsteilnehmer zu »Landfriedensbrechern« befördert werden – eine gesetzliche Konstruktion, mit deren Hilfe die aus »Terrorismusverfahren« bekannte und heftig umstrittene kollektive Haftung auch im Demonstrationsrecht verankert wurde. Der individuelle Nachweis einer eigenhändig begangenen Gewalttat ist entbehrlich geworden; die bloße Anwesenheit bei einer Demonstration zu einer bestimmten Zeit oder in einer inkriminierten Bekleidung reicht für eine Verurteilung aus.

Die Steinwürfe von Krefeld kamen also wie bestellt, um eine heftig umstrittene Gesetzesänderung als notwendig und legitim erscheinen zu lassen – auffallend fristgerecht mitgeliefert von einem agent provocateur des »Verfassungsschutzes«. Auch die neuen Verschärfungsvorhaben stoßen auf breite Ablehnung: SPD und GRÜNE opponieren, unterstützt von manchen Staatsanwälten, Deutschem Richterbund und Strafverteidiger-Vereinigungen, selbst von der »Gewerkschaft der Polizei« (GdP), die mit je unterschiedlichen Argumenten vor einer weiteren gesetzlichen Aushöhlung des Demonstrationsrechts warnen. Wie es scheint: vergeblich.

Die Startbahn-Schüsse lieferten den Bonner Scharfschützen gegen die Demonstrationsfreiheit die Munition, die ihnen jene erpresserischen Machenschaften ermöglicht, um ihre Strafrechtsnovelle rückwärts gegen alle Vernunft und rechtsstaatlichen Warnungen durchzupeitschen. Die aktuellen innenpolitischen Auseinandersetzungen, vor deren Hintergrund die Gesetzesverschärfungen nicht zuletzt zu werten sind, lassen ihre künftige Nutzanwendung deutlich aufscheinen: Hunderttausend aufgebrachte, vom Verlust ihres Arbeitsplatzes bedrohte Stahlarbeiter im Ruhrgebiet beginnen, mit Arbeitsniederlegungen, Demonstrationen, Verkehrsblockaden und Villenbesetzungen eine neue Qualität des Arbeitskampfes und des Widerstandes einzuläuten.

Reaktionen nach zweierlei Maß

Die Reaktionen auf die tödlichen Schüsse an der Startbahn-West von Anfang November 1987 sind äußerst aufschlussreich. Ein Grundkonsens war von Anfang an festzustellen: Kaum jemand zögerte, jene Todesschüsse auf Polizeibeamte als das zu bezeichnen, was sie (mutmaßlich) auch sind: Mordtaten aus dem dunklen Hinterhalt. Viele verspürten den Widerspruch, dass eine »Bewegung für den Schutz des Lebens und der Natur« nun für zwei Tote Mitverantwortung tragen soll. Zahlreiche Diskussionen wurden ausgelöst und ernsthaft geführt. Auch das Problem verselbständigter Gewaltrituale wurde erörtert, die mehrheitlich lange verdrängten, durchaus möglichen Todesfolgen von Zwillengeschossen und Molotow-Cocktails ins Bewusstsein gehoben und über »gegenseitige Abrüstung« nachgedacht.

Noch vor kurzem hätten es nur wenige für möglich gehalten, dass – vorbehaltlich der endgültigen Klärung – gezielte oder ungezielte Todesschüsse aus Demonstrationen heraus abgefeuert und Polizisten als Todesopfer liegenbleiben würden. Zu sehr waren wir daran gewöhnt, dass »so etwas« nur von der anderen Seite erwartet werden könne.

Und die über 35jährige Geschichte der Bundesrepublik gab dieser Ansicht durchaus recht. Die bislang bei Demonstrationen ums Leben gekommenen Menschen sind schließlich Opfer polizeilichen Schusswaffeneinsatzes und polizeilicher Einsatztaktik geworden: In den fünfziger und sechziger Jahren wurden bei Demonstrationen zwei Menschen von Polizeikugeln tödlich getroffen; in den achtziger Jahren zwei Menschen aufgrund polizeilicher Einsatztaktik in den Tod getrieben, ein weiterer von einem modernen Hochleistungswasserwerfer zu Tode gefahren; das letzte Todesopfer forderte im Jahre 1986 der erste polizeiliche Einsatz von CS-Gas, das bereits seit 1925 im Verhältnis zu anderen Staaten völkerrechtlich geächtet ist.

Weil das (zeit-)geschichtliche Gedächtnis sich mitunter als äußerst kurz erweist, sei in diesem Zusammenhang des weiteren erinnert an den häufig erlebten Polizeiterror gegen Startbahn-Demonstranten, etwa in der Frankfurter Rohrbachstraße, gegen AKW-Gegner, etwa bei Brokdorf und Kleve, auf dem Hamburger Heiliggeistfeld und bei Wackersdorf: Spießrutenlaufen, Knüppelorgien, Wasserwerfer- und Kampfgas-Einsätze, Einkesselungen und Verschleppungen sind nur die knappen Stichworte zur Kennzeichnung dieser Art von Staatsgewalt, die den Keim des organisierten Staatsterrorismus in sich trägt.

Doch aus solchen tragischen Vorfällen und rechtswidrigen Staatsaktionen wurden keine hinreichenden Konsequenzen gezogen, gefährliche Polizeieinsatzmittel und -methoden eher noch erweitert und verfeinert, Gesetze blieben unverändert. Stattdessen mussten wir immer wieder von neuem erleben, dass die staatlichen Kontrollinstanzen, die zur Aufklärung und Ahndung jener Polizeigewalt berufen und verpflichtet sind, kläglich versagten. Wir mussten erleben, dass die politisch Verantwortlichen im Dunkeln blieben – auch vollkommen unvermummt. Wir mussten erleben, dass die unmittelbaren Polizeitäter, so sie überhaupt identifiziert werden konnten, so sie überhaupt vor Gericht gestellt worden waren, freigesprochen wurden oder mit einer minimalen Strafe davonkamen – während jene, die etwa die polizeilichen Todesschüsse öffentlich und umgangssprachlich als »Mord« bezeichneten, für diese Einschätzung oft hart bestraft wurden.

Vollkommen anders die Reaktionen nach den beiden Polizistenmorden. Sie wurden zum – fast möchte man annehmen: willkommenen – Anlass genommen, nun endlich die Anfang 1987 in Kraft getretene Verschärfung und Ausweitung der sogenannten Antiterrorgesetzgebung zur vollen Anwendung zu bringen: Denn damit lassen sich auch Widerstandsbewegungen, militante Demonstrationen und Demonstrationsteilnehmer unter Terrorismusverdacht stellen und den weitreichenden (Sonder-)Möglichkeiten der Terrorismusfahndung unterwerfen. Insbesondere politisch verdächtige Szenen, die nicht hierarchisch strukturiert sind, lassen sich auf diese Weise umfassend aufmischen und auskundschaften, ihre Kommunikationsstrukturen ausforschen. Eine Welle von Razzien, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und Verhaftungen rollte bereits durchs ganze Land. »Fahndungserfolge« sind zwar kaum zu verzeichnen, dafür aber eine Fülle polizeilicher »Erkenntnisse« und eine gründliche Verunsicherung des Vor- und Umfeldes von Demonstrationen und Widerstandsgruppen.

Als ob sich der Staat als Ganzes beschossen fühlte, schickt er sich an, auch legislatorisch nachzurüsten und zurückzuschießen, wodurch die Wahrnehmung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit mehr und mehr zum unkalkulierbaren Risiko zu werden droht: Einführung eines strafbewehrten »Vermummungsverbotes« und eines Verbots der sogenannten passiven Bewaffnung (statt der bisherigen Ordnungswidrigkeitsregelung); Versuch der nochmaligen Verschärfung des »Landfriedensbruch«-Tatbestands; Einführung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr – eine Nazi-»Errungenschaft« des Jahres 1935 – für polizeibekannte Demonstrationstäter (das bedeutet also Vorbeugehaft auch etwa für Demonstrationsteilnehmer, die sich schon einmal nicht rechtzeitig aus einer gewalttätigen Demonstration entfernt haben); Schaffung einer speziellen Strafnorm, die Sitz- und andere Blockaden, abseits der »Unwägbarkeiten« des Nötigungsparagraphen, unter Strafe stellen soll; nochmalige Erweiterung der polizeilichen Kontrollbefugnisse im Vorfeld auch gegen Unverdächtige (Kontrollstellen); Demonstrationseinsatz neuzuschaffender Polizei-Spezialeinheiten nach dem Vorbild der »GSG 9«; Einführung von Schnellverfahren gegen mutmaßliche Demonstrationstäter; Strafbarkeit der »öffentlichen Befürwortung von Straftaten« über den neu zuschaffenden Zensurparagraphen 130 b StGB usw.

Staatsautoritäres Trauerstück

Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Verschärfung des Demonstrationsrechts führen erneut recht drastisch vor Augen, wie in der Bundesrepublik großartig deklarierte Freiheitsrechte zentimeterweise, paragraphenweise, ja (sicherheits-)paketweise demontiert und kassiert werden, da wo sie wenigstens in Ansätzen wirksam werden konnten.

Es wird uns wieder einmal drastisch vor Augen geführt, wie bereits seit langem gehegte Staatsschutzpläne unter Ausnutzung der Gunst der Stunde durchgepaukt werden; wie die Mechanismen der Legitimierung ablaufen und die offizielle Sprachregelung die staatsschützenden Intentionen in freiheitsschützende umzumünzen versucht, und wie die medienöffentliche Diskussion auf bestimmte emotionsbeladene Vorhaben konzentriert wird (z.B. Kronzeugenregelung, Vermummung), um in ihrem Windschatten weit gefährlichere Pläne nahezu unbemerkt durchsetzen zu können.

Wieder müssen wir miterleben, wie bestimmte linksoppositionelle Gruppen und Kräfte als »innere Feinde« kriminalisiert und ausgegrenzt, ihre demonstrativ vorgebrachten Anliegen selten ernst genommen werden; wie verbleibende liberale, besonnene, kritische Stimmen unter Distanzierungs- und Legitimierungsdruck gesetzt werden und diesem nur selten zu widerstehen vermögen und wie bestimmte bittere Erfahrungen mit diesem (Sicherheits-)Staat sowie ehedem erkannte Wahrheiten über diese (Klassen-)Gesellschaft durch den Druck der Ereignisse und ideologisch-moralische Zurichtung »plötzlich« in Vergessenheit geraten, auf längere Sicht verdrängt werden.

All das und noch viel mehr lehrt uns dieses aktuelle staatsautoritäre Trauerstück – ein Trauerspiel um zwei tote Polizisten, eine Demonstrationsfreiheit, die dafür verantwortlich gemacht wird, einen öffentlich Gewalt befürwortenden Bundesinnenminister, seine »christlich-sozialen« Unterstützer und Werber. Ein Trauerspiel um eine wankelmütige, immer wieder liberale Hoffnungen weckende und enttäuschende freidemokratische Partei, die dank ihrer nahezu ununterbrochenen Regierungsbeteiligung schon traditionell so frei ist, an der Verwandlung bürgerlicher Freiheitsrechte in staatliche Schutzrechte mitzuwirken (mit wenigen Ausnahmen), und dabei die hohe Wende-Kunst entwickelt hat, umzufallen, ohne zu stürzen. Ein Trauerspiel um eine oppositionelle Sozialdemokratie, die von der Oppositionsbank aus das bekämpft, wofür sie in den sozialliberalen siebziger Jahren die Grundlagen und Voraussetzungen geschaffen hat. Ein Trauerspiel um eine grüne Partei, die in weiten Teilen vor lauter Bußfertigkeit und Aussöhnung mit diesem Staat den Widerstand gegen dessen Gesetzesextremismus verschläft und streckenweise gar argumentativ verrät, sowie um eine Linke, die an ihren Rändern in Auflösung begriffen ist, in ihren zersplitterten Kernen zur (Selbst-)Isolierung neigt, und die in der akuten Auseinandersetzung leider nur wenig bis gar nichts zu bewirken vermag.

Eilfertige Distanzierungen und willfährige Bußfertigkeit, wie sie in Teilen der Linken und insbesondere bei den »Grünen« zu beobachten sind, können wir nicht erst seit den Startbahn-Schüssen verzeichnen. Schon die jüngste Debatte um Amnestie oder Gnade für (ehemalige) »Terroristen« beflügelte den »Zeitgeist«, der einer staatskritischen Opposition mächtig ins Gesicht zu blasen scheint: »Einseitige« Staatskritik, ohne jede Vor- und Gegenleistung, ohne Glaubensbekenntnis zur »freiheitlich demokratischen Grundordnung« oder Distanzierung von der RAF und von Polizistenmorden, ist regelrecht verpönt. Teile der (ehemaligen) Linken üben sich in einseitiger »Selbstkritik« und in Versöhnung mit diesem Staat. Aus den Reihen der »Grünen«, die die »Gewaltfreiheit« zum Programm erhoben haben, wird gar ein »positiv entwickeltes Staatsverständnis« eingefordert bis hin zu einer offensiven Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols – letztlich die Befürwortung der organisierten Gewalt.

Bei diesem »Wettlauf um die besten Plätze hinter den Särgen der beiden Polizisten« (Gremliza) gerät die verhängnisvolle Entwicklung innerer Sicherheitspolitik, um die sich künftige Oppositions- und Widerstandsarbeit verstärkt kümmern müsste, zu-nehmend aus dem Blickfeld: Es geht um die Gefährlichkeit einer (»Rest«-)Risiko-Politik, die gesundheits- und lebensbedrohende, letztlich unbeherrschbare Projekte mit (Staats-)Gewalt durchsetzt und nicht etwa diese Projekte, sondern die hiervon betroffenen Menschen als potentielle oder konkrete Sicherheitsrisiken einstuft, die den technologischen »Fortschritt« blockieren – sprich: die Profitgrundlagen und letztlich auch die Herrschaftsverhältnisse gefährden – könnten.

Diese herrschende Politik bedingt zwangsläufig und in zunehmendem Maße eine gefährliche, freiheitsbedrohende Aufrüstung und Umstrukturierung des gesamten Staatssicherheitssystems in der Bundesrepublik, verbunden mit einer längst in Gang gesetzten, fast uferlosen Ausweitung staatlicher Eingriffsbefugnisse, die die individuellen und kollektiven Grundrechte in ihrer Substanz angreifen. Die »Sicherheitsgesetze« und die Verschärfung des Demonstrationsrechts sind Meilensteine dieser Entwicklung.

Mummenschanz

Ein gesetzliches Vorhaben machte inzwischen eine besonders steile Karriere: das strafbewehrte Vermummungsverbot. Ausgerechnet zwei Polizistenmorde, aus der schützenden Dunkelheit heraus begangen, sollen nun für dieses umstrittene Vorhaben dienstbar gemacht werden – wohlwissend, dass Tötungsdelikte absolut atypische Taten im Zusammenhang mit Demonstrationen darstellen. Es ist in dieser absurden und gespenstischen Verdummungsdebatte um das strafbewehrte Vermummungsverbot offenbar kein Argument zu blöd, um die Bestrafung bestimmter Bekleidungsarten als notwendig und plausibel erscheinen zu lassen. Denn die Polizistenmorde hätten damit auch nicht verhindert werden können: Zum einen spielte »Vermummung« bei jenen Vorfällen keinerlei Rolle, zum anderen ist Mord bekanntlich bereits mit der Höchststrafe, nämlich lebenslänglich, bedroht.

Ein strafrechtliches Vermummungsverbot ist im übrigen mit den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Tat-Strafrecht nicht vereinbar. Das bloße Tragen einer bestimmten, unerwünschten Bekleidung – wie etwa Schals, große Sonnenbrillen, falsche Bärte oder Gesichtsmasken – ist keine Tat im strafrechtlichen Sinne, denn es verletzt keine fremden Rechtsgüter. Es würde letztlich allein der generelle Verdacht bestraft werden, dass mit einer bestimmten Bekleidung auch eine bestimmte Absicht zu gewalttätigem Verhalten verbunden sei. Das allerdings ist pures, rechtsstaatswidriges Verdachts- bzw. Gesinnungsstrafrecht.

Weitere gewichtige Argumente sprechen gegen ein Vermummungsverbot – nicht nur gegen ein strafbewehrtes, sondern auch gegen das bereits bestehende, im Versammlungsgesetz als Ordnungswidrigkeit geregelt. Danach ist die Teilnahme an einer Demonstration »in einer Aufmachung, die geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern« mit Geldbuße bis zu 1.000 DM bedroht. Das Vermummungsverbot dient also der ungehinderten Durchsetzung präventiver polizeilicher und geheimdienstlicher Überwachungsmaßnahmen: es ist eine Ergänzungsmaßnahme zur seit Jahren extensiv betriebenen elektronischen Datenerfassung, speicherung und -verarbeitung. Und hier sind schließlich die ursprünglichen Gründe für Gesichtsverhüllungen bei Demonstrationen zu finden. Denn überwiegend trieb und treibt gerade die berechtigte Angst vor Registrierung durch Polizei und »Verfassungsschutz«, mittels Video und Fotodokumentationstrupps, V-Leuten und vermummten Staatsschützern, zu solchen Vorsichtsmaßnahmen. Auch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur polizeilichen Beschlagnahme von Fotos und Filmen bei den Medien rechtfertigt in erhöhtem Maße den Schutz vor willkürlicher Identifizierung auf Vorrat.

Es gibt im übrigen keine allgemeine Pflicht, sich bei Versammlungen der Polizei gegenüber erkennbar zu halten und sein Gesicht offen zu zeigen. Eine solche Vorstellung entspringt nämlich purem polizeistaatlichen Denken. Bei einer derartigen Argumentation wird völlig ignoriert, dass Demonstrationen, etwa einer verfolgten Minderheit, oft das einzige Mittel sein können, Rechte erst zu erkämpfen, die dieser Minderheit bisher versagt wurden. Die Problembereiche Abtreibung, Homosexualität, Aids, Asylverfahren sind nur einige wenige Beispiele, an denen sich diese Problematik verdeutlichen lässt. Die Teilnahme an einer Demonstration kann für die Betroffenen mit einem hohen Risiko und schwerwiegenden Nachteilen verbunden sein: die elektronische Erfassung mittels Video und Foto kann zur Identifizierung und Speicherung personenbezogener Daten und Verdachtsmomente führen sowie zur Verarbeitung der gewonnenen Daten im Wege der Rasterfahndung oder in Form von Persönlichkeitsprofilen und Bewegungsbildern; U-Haft, Ermittlungsverfahren, Observationen, Lauschangriffe, Berufsverbote, Arbeitsplatzverlust und Abschiebungen können die Folge sein.

Auch ließen sich mit demselben Argument des »offenen Visiers« auch die geheimen Wahlen in Demokratien abschaffen; schließlich, so diese Logik, gibt es ja keinen Grund, seine politische Überzeugung zu verheimlichen. Doch geheime Wahlen sind eine demokratische Errungenschaft, die die Gefahr von Repressionen und anderen Nachteilen von vornherein ausschließen soll – eine Maxime, der auch für ein demokratisches Demonstrationsrecht Geltung verschafft werden sollte.

Noch eins: Warum wird eigentlich nicht auch das Tragen von Handschuhen in geschlossenen Räumen unter Strafe gestellt? Schließlich stellt diese Fingerkuppen-Vermummung die gebräuchlichste Maßnahme von Einbrechern dar, um kompromittierende Fingerabdrücke zu vermeiden.

Spaß beiseite: Ein strafbewehrtes Vermummungsverbot eröffnet der Polizei, im Gegensatz zur bisherigen Ordnungswidrigkeits-Regelung, alle Möglichkeiten der Strafprozessordnung: Festnahme, Untersuchungshaft, Hausdurchsuchung, erkennungsdienstliche Behandlung usw. Außerdem wird eine solche Strafnorm sich sehr rasch als Auffangtatbestand erweisen, wenn eine bestimmte Gewalttat den Verdächtigen nicht nachgewiesen werden kann, so können sie doch wenigstens wegen Vermummung bestraft werden.

Doch nicht allein das strafbewehrte Vermummungsverbot steht ins Haus, sondern auch ein strafbewehrtes Verbot sogenannter passiver Bewaffnung/Schutzbewaffnung ist geplant, wird aber in der öffentlichen Diskussion fast vollkommen vernachlässigt. Darunter fallen, so die bisherige Regelung im Versammlungsgesetz, »Schutzwaffen oder Gegenstände, die als Schutzwaffen geeignet und dazu bestimmt sind, Vollstreckungsmaßnahmen eines Trägers von Hoheitsbefugnissen abzuwehren« – also etwa Schutzhelme gegen Polizeiknüppel, Regenschirme gegen Wasserwerfer(?) und Gasmasken oder Mundtücher gegen die Kampfgase CS und CN.

Das Verbot der »passiven Bewaffnung« und das »Vermummungsverbot« haben eines gemeinsam: Beide Verbote sollen verhindern, dass staatliche Überwachungs- bzw. Zwangsmaßnahmen ins Leere laufen. Sie stehen praktisch symbolisch für die Durchsetzung der ganzen Bandbreite polizeilicher Einsatzmethoden und -mittel: Demonstrationsfreiheit zwischen Knüppel und Videoüberwachung, zwischen Wasserwerfer und Computer.

Anleitung zu künftigen Straftaten

Man möchte die kommenden Demonstrationen nutzen, um öffentlich zur massenhaften und phantasievollen Verkleidung, zur berufsmäßigen und situationsbezogenen Vermummung und »Schutzbewaffnung« aufzurufen, damit der »gewaltenthemmende« und »inhumane« (Bundespräsident von Weizsäcker) Mummenschanz auf die Spitze getrieben werde und das (geplante) Anti-Mummenschanz-Gesetz ins Leere laufe. Denn merke: Wer sich vermummt und (ver-)kleidet, hat etwas zu verbergen; wer sich entmummt und entkleidet, nicht unbedingt etwas vorzuweisen. Der Phantasie und den Assoziationen sind weite Grenzen gesetzt:

Stahlarbeiter mit Schutzhelmen, Motorradfahrer mit Sturzhelmen, Frierende mit Schals im Gesicht / Narren mit Masken, Clowns mit Pappnasen, Schauspieler bunt geschminkt / Ärzte mit Mundschutz, Nikoläuse mit Bärten, Heinos mit Sonnenbrillen, Piraten mit Augenklappen, Helnwein mit Kopfverband / Schornsteinfeger mit geschwärzten Gesichtern, Bräute mit Schleiern, Papst Paul die Erde, Liebende sich gegenseitig küssend / Funktionäre mit Charaktermasken, Zwangscharaktere mit Charakterpanzer, Engerlinge mit Larven, Kohlköpfe mit Zimmermann-Masken / Spaziergänger mit Gasmasken, Gasmänner unter Regenschirmen, Schafe im Wolfspelz und umgekehrt, Birne Helene im Schlafrock, Langusten in Bierteig / Sonnen-empfindliche mit Schlapphut, Schlafende unter einer Decke, Taucher mit Ski- und Skifahrer mit Taucherbrille / Berufsverbote-Opfer mit Knebel, Gespenster in Bettlaken, Mumien in Bandagen, Justitia mit Augenklappe, blinde Kuh mit Krückstock / Wallraff als »Ich, Ah« mit geweiteten Pupillen, Giraffen mit Grimassen, Nancy geliftet / RAF-Texte in Cola-Dosen, Zimmermann mit Balken im Auge, Bankräuber mit Seidenstrümpfen, Bangemann in Aspik, Rebmann in Öl / Der Rest mit Brett vorm Kopf und hängenden Ohren …

Geschichtliche Mahnung

Gestatten wir uns völlig wahllos, einen kurzen Griff in die Skandalkiste der Bundesrepublik und wagen wir zu fragen: Wurde das Steuerstrafrecht verschärft, weil die Steuerhinterzieher und Großbetrüger in Politik und Wirtschaft immer dreister werden? Wird das Straßenverkehrsrecht verschärft, etwa durch Geschwindigkeitsbegrenzungen, weil die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle unerträglich hoch ist? Wird der »Verfassungsschutz« entmummt und wirksam kontrolliert, weil er in der Grauzone des »Geheimen« immer neue Skandale produziert? Soll das Umweltstrafrecht verschärft werden, weil die unmittelbar Verantwortlichen für Umweltkatastrophen und -schäden so schlecht auszumachen sind? Die einstimmige Antwort lautet: Nein! Wie leicht zu erkennen ist, bedürfte es keines Vorwands, um gesetzliche Verbesserungen in den genannten Fällen zu begründen. Die Gefahren für die Bevölkerung sind nun wirklich groß genug, Handlungsbedarf bestünde also – aber es geschieht (fast) nichts. Ganz anders im Fall des Demonstrationsrechts. Hier wird immer wieder eine erstaunliche Hektik und Betriebsamkeit an den Tag gelegt. Zwei im Verlaufe einer Demonstration erschossene Staatsdiener – ein Novum in der bundesrepublikanischen Geschichte – werden zum Anlass genommen, das gesamte Demonstrationsrecht umzukrempeln. Schon einmal mussten durchschnittlich knapp zwei Ermordete im Jahr für umfangreiche und weitreichende Gesetzesverschärfungen herhalten: Insbesondere in den siebziger Jahren diente der »Terrorismus« gegenüber der Bevölkerung als griffige, alles legitimierende Zauberformel, um die sicherheitspolitische Aufrüstung nach innen zu forcieren und zu rechtfertigen.

Es ist der immerwährende Versuch der herrschenden Kräfte, aufgeputschte Volksstimmen zu nutzen, um liberale Zweifler moralisch unter Druck und Freiheitsrechte peu à peu außer Kraft zu setzen. Frei nach dem Motto: Staatsschutz geht vor Freiheitsschutz.

Wohl um die Stimmung noch zu schüren, erklärt Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann den Mord an Polizisten kurzerhand zum »schlimmsten aller Morde« – angesichts dieses obrigkeitsstaatlichen Superlativs müssen die etwa 1.000 Menschen, die in der Bundesrepublik Jahr für Jahr durch Mord, Totschlag und andere kriminelle Gewalt ums Leben kommen, notgedrungen verblassen.

Aber auch die Abermillionen »Ausgemerzten« der NS-Zeit, die von treuen Staatsdienern ermordet wurden, zählen da folgerichtig nur wenig: Die nachsichtige Behandlung von NS-Massenmördern und NS-Blutrichtern in der BRD entspringt eben diesem staatsautoritären Geiste. Und dieser historische Bezug erinnert uns an eine Erkenntnis, die auch angesichts von Polizistenmorden nicht einfach über Bord geworfen werden kann: Die neuere Geschichte, insbesondere diejenige Deutschlands, zeigt, dass die eigentlichen und systematischen Gefahren für die Menschen und Menschenrechte von staatlicher Seite, vom staatlich organisierten Gewaltapparat drohen. An der staatsterroristischen Vergangenheit der deutschen Justiz, der Geheimdienste und der Polizei haben wir – allen Beschwichtigungsversuchen zum Trotz – heute noch schwer zu tragen. Die permanente Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten ist auf diesem geschichtlichen Hintergrund zu werten.

Unsere politische Zukunft, ja unsere politische Überlebenschancen hängen entscheidend von der Frage ab, wie wir noch wirksame Opposition, effektiven Widerstand gegen immer bedrohlicher werdende machtpolitische, existenzgefährdende Entscheidungen der herrschenden Kräfte in diesem Land betreiben können.

Nur organisierter Widerstand auf allen Ebenen – der wissenschaftlichen, juristischen, politischen, parlamentarischen wie außerparlamentarischen, unter Einbeziehung von Bürgerrechtsgruppen und insbesondere auch der Gewerkschaften – wird hier etwas ausrichten können. Denn der Kampf etwa gegen Atomenergieanlagen, gegen Kriegsvorbereitung und Umweltzerstörung, der Kampf gegen Ausbeutung und Massenarbeitslosigkeit kann nur dann erfolgreich geführt werden, wenn der Kampf gegen die Zerstörung der Freiheitsrechte und der Kampf um demokratische Strukturen endlich mit Ausdauer und politischer Phantasie aufgenommen wird.


vorgänge 91 vom 15. Januar 1988, 33 – 42.

Überraschung

Jahr: 1987
Bereich: Militanz

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