Materialien 1988

Tour de Terror verboten!

Was viele erhofften, manche befürchteten und den meisten
wohl völlig gleichgültig war, ist eingetreten: Tour de Terror verboten!

All die, die schon immer wussten, dass es so kommen musste, und dass denen ach so gehört, weil’s ja schon immer so war und auch so bleiben wird und im übrigen, was wollens denn überhaupt! All die können sich jetzt beruhigt zurücklehnen und die Lektüre der nächsten drei Seiten den kommenden Generationen überlassen.

»Tour de Terror« — die für den 9. März im Schwabinger Bräu angesetzte Veranstaltung des Anti-Atom-Plenums zum Thema Versammlungsfreiheit und Widerstandsperspektiven konnte nicht stattfinden. Der Verwaltungsgerichtshof München bestätigte ca. drei Stunden vor Veranstaltungsbeginn das Verbot des Kreisverwaltungsreferats vom Vortag, das auch jede Form von Ersatzveranstaltung mit einschloss. Das Kreisverwaltungsreferat behielt sich vor, auch die kurz vor dem Veranstaltungsbeginn angesetzte Pressekonferenz nach „Ermessen der anwesenden Polizeikräfte“ als Ersatzveranstaltung zu betrachten, das hieße, ebenfalls zu verbieten. So weit wollte man sich dann aber angesichts der anwesenden Pressevertreterinnen nicht vorwagen. Nachdem ein Großaufgebot der Polizei das Schwabinger Bräu für die erwarteten 500 bis 1.000 Besucher gesperrt hatte, untersagte der zuständige Einsatzleiter entgegen geltendem Recht auch eine Spontandemonstration gegen das Verbot und drohte, jegliche Ansammlung von potentiellen Demonstranten mit „unmittelbarem Zwang“ durch die anwesenden uniformierten und fast ebenso zahlreichen zivilen Ordnungshüter abzuräumen. Als sich die Menschenansammlung nicht sofort entfernte, drängte das Gauweilerische Unterstützungskommando sie aggressiv auseinander und griff ca. 25 Leute zur Personalienfeststellung aus der Menge heraus. Mindestens sechs von ihnen wurden über Nacht festgehalten und müssen mit Anzeigen rechnen.

»Tour de Terror« — die Staats-Gewalt hat an diesem Mittwochabend zweifelsfrei gezeigt, wie sie das — zugegebenermaßen doppeldeutige — Veranstaltungsmotto versteht. Doch — was reizte den bayerischen Löwen, was war das Ziel der »Tour de Terror«! Wollte sie den Angriff auf Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit darstellen — sozusagen am lebenden Objekt! Wollte sie die Terroristenhatz, das Mördergegröl ad absurdum führen, dem kritische und couragierte Menschen ausgesetzt sind! Wollte sie gar — wie das Kreisverwaltungsreferat wähnte — hemmungslos und mit wachsender Begeisterung zu strafbaren Handlungen aufrufen und Greueltaten billigen, wie z.B. Sachbeschädigung, Werfen von Steinen und Molotowcocktails, Herbeiführung von Sprengstoffanschlägen, Totschlag und gar Mord?

Verschiedene politisch aktive Gruppen, Künstler und Schriftsteller wollten sich — auf Einladung des Anti-Atom-Plenums — mit dem gerade in Bayern verstärkten Angriff auf elementare Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit auseinandersetzen, die Situation radikaler, politischer Opposition beleuchten und Möglichkeiten und Perspektiven von Protest und Widerstand thematisieren:

□ Erich Fried — einst vor den Nazis geflüchteter Schriftsteller, der letztes Jahr den Georg-Büchner-Preis für seine engagierte Lyrik und Prosa erhielt;

□ Rainer Trampert — ehemaliger Bundesvorstandssprecher und Exponent des linken Flügels der Grünen;

□ Freiraum — anarchistische Zeitschrift aus München, die seit Jahren von Kriminalisierungsversuchen betroffen ist;

□ Lupus — autonome Gruppe aus Frankfurt, die durch ihre fundierte und selbstkritische Auseinandersetzung mit autonomer und militanter Politik wichtige Denkanstöße gibt;

□ Anti-Atom-Plenum — breites Münchner Bündnis für die sofortige Stillegung aller Atomanlagen.

Unterstützt durch kulturelle Beiträge von Wolter Moßmann, den Guglhupfa und den los Bequerellos sollten diese Redebeiträge die politische Vielfalt der engagierten radikalen Linken zum Ausdruck bringen.

Als Vorwand für das Verbot diente dem Kreisverwaltungsreferat die Teilnahme des Anti-Atom-Plenums und von lupus. Zum einen war es ein angebliches Thesenpapier des Anti-Atom-Plenums zur „internen Militanzdebatte“, das jedoch nie im Plenum diskutiert geschweige denn in irgendeiner Form beschlossen wurde, zum anderen ein bis dato unbeanstandet veröffentlichter Artikel (u.a. in »Konkret«) der Gruppe „lupus“ zum „Stand autonomer Bewegung — Langlauf oder Abfahrt im Sturz“. Daraus schloss das Kreisverwaltungsreferat messerscharf, dass „der Veranstalter und sein Anhang zu strafbaren Handlungen auffordern und derartige Äußerungen billigen würde“. Die Aussagen in diesen Papieren „dienen dazu, militante Perspektiven zu entwickeln und zu verbreitern“. Das gerade Papiere als Verbotsbegründung herhalten mussten, in denen der Militanzbegriff kritisch hinterfragt und Widerstandsformen selbstkritisch diskutiert wurden, macht deutlich, wie hier eine Gesinnungsjustiz praktiziert wird, die nicht mehr konkrete Straftaten zu verfolgen vorgibt, sondern sich gegen bestimmte politische Meinungen richtet, ja sogar gegen die Diskussion darüber.

Versammlungsverbote — Alles Alltag?

Waren vor einigen Jahren noch Sympathisanten von RAF und „Revolutionären Zellen“ Zielscheibe von Kriminalisierungs- und Verbotsmaßnahmen, so folgten später Autonome und Militante, denen planmäßig die Möglichkeit zur öffentlichen Artikulierung genommen werden sollte. Spätestens mit dem Verbot der Bundeskonferenzen (BuKo) der Anti-AKW-Bewegung im letzten Winter in Regensburg und Nürnberg gerät nun auch die gesamte Anti-AKW-Bewegung zunehmend in die Schusslinie. „Bayern, das Mittelamerika des freiesten Staates, den es je auf deutschem Boden gab“, merkt „Lupus“ in der nicht gehaltenen Rede ironisch an und ergänzt, sie „hätten fast einen Friedensplan für diese von Unfrieden und staatlicher Gewalt erschütterte Region mitgebracht. Schließlich beinhaltet der Friedensplan für Mittelamerika bemerkenswerte Inhalte und Forderungen, die für bayerische oder sagen wir deutsche Verhältnisse geradezu revolutionär klingen müssen: Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Redefreiheit, Amnestie für alle politischen Gefangenen, soziale Gerechtigkeit, Entmilitarisierung der gesamten Region und ein Ende des nichterklärten Kriegszustands.“ Doch bleiben die Frankfurter realistisch: „… vergesst dieses Gedankenspiel, wahrscheinlich ist bereits dieser Vergleich strafbar.“

Der staatliche Angriff auf die politische, kulturelle und soziale Substanz aller Gruppen, die die Grenzen staatlich zugestandener und damit harmloser Opposition überschritten und den Schritt von Protest und Widerstand vollzogen haben, erfolgt zur Zeit in geradezu demonstrativer Stille, mit geradezu tödlichem Schweigen. »Tour de Terror« — das sollte ein Versuch sein, diese staatlich verordnete Stille zu durchbrechen, die faktische Zerschlagung der Versammlungsfreiheit öffentlich zu machen und gerade die Inhalte, Ideen und Handlungsansätze zu diskutieren, die immer wieder zensiert, verboten, unter Repression und dreisten Lügen verschüttet, unkenntlich gemacht werden. Wir mussten damit rechnen, dass das Kreisverwaltungsreferat versuchen würde, die Veranstaltung zu verbieten, was in München ja schon Tradition hat. Um eine inhaltlich so brisante Veranstaltung gegen ein endgültiges Verbot abzusichern, scheint es erstmal nur die Möglichkeit zu geben, sie — wie bei der Bundeskonferenz (BuKo) der Anti-AKW-Bewegung — mit einem breiten Bündnis aus verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen abzusichern. Diese Gruppen solidarisieren sich bereits im Vorfeld öffentlich mit der geplanten Veranstaltung. Damit wird der politische Druck so stark, dass die Veranstaltung nur unter großem politischem Gesichtsverlust zu verhindern wäre. Doch hat dieser Ansatz auch zwei entscheidende Nachteile: Zum einen bedarf ein breites Bündnis — vorausgesetzt die Veranstaltung will eine klare inhaltliche Ausrichtung haben — erfahrungsgemäß eine immense Vorbereitungszeit, um notwendige Diskussionen zu führen, sich über politische Unterschiede hinweg zu verständigen und um Kompromisse zu schließen, die nicht in banaler Beliebigkeit versacken. Zum anderen verlieren politische Auseinandersetzungen an Kontur, da nur Kompromisse und nicht Konflikte nach außen getragen werden und so die Versammlungsfreiheit immer nur für gewisse Gruppenkonstellationen und nicht für die Gruppen selbst gelten. So schränkt der Zwang zum breiten Bündnis, um die Versammlungsfreiheit zu sichern, diese bereits ein. Unsere Zielsetzung musste also sein: Zum einen es jeder Gruppe wieder zu ermöglichen, ihre Veranstaltungen mit ihren Inhalten zu machen. Für Versammlungsfreiheit einzutreten müsste also heißen, die Durchsetzung von Veranstaltungen anderer Gruppen als eigenes Interesse begreifen, solidarisch für deren Rechte einzutreten, auch wenn wir die dort vertretenen Inhalte nicht unbedingt teilen. Zum anderen war das Ziel, die herrschende Verbotspraxis aus dem Schatten der öffentlichen Diskussion zu holen, den Angriff auf elementare Grundrechte aufzuzeigen, um einen politischen Druck zu erzeugen, der allen politischen Gruppen ein Stück Handlungsfreiheit zurückgewinnt.

Um diese Ziele zu erreichen, erschien es uns notwendig, dass nur das Anti-Atom-Plenum als Veranstalter auftreten sollte und gleichzeitig verschiedenste Gruppen um politische Unterstützung für den Fall eines Verbots angegangen werden sollten, um den notwendigen öffentlichen Druck zu erzeugen. Auf der anderen Seite war es klar, dass wir selbst eine optimale juristische Vorbereitung und flankierend eine nahezu professionelle Pressearbeit zu gewährleisten hatten. Zugegebenermaßen ein hoher Anspruch — zu hoch?

Sie verbieten uns, uns zu versammeln, um darüber zu diskutieren,
warum sie uns immer wieder verbieten, uns zu versammeln.

Mit einem endgültigem Verbot rechnete niemand. Dass gerade eine Veranstaltung zum Thema Versammlungsfreiheit verboten wurde, zeigt die Dreistigkeit der Ordnungshüter, mit der sie jeden Versuch, sich öffentlich dem Abbau freiheitlicher Grundrechte entgegen zustellen, im Keim ersticken wollen. Natürlich haben wir auch Fehler in der Vorbereitung gemacht. Wir haben unterschätzt, wie gut sich das Kreisverwaltungsreferat in Absprache mit Polizei, Justiz und Presse auf ein Veranstaltungsverbot vorbereitet hatte. Wir haben unterschätzt, wie wenig wir in der Lage waren, verschiedenste Gruppen zu einer wirkungsvollen Solidarisierung zu motivieren und wie wenig diese teilweise dazu in der Lage waren. Wir haben unterschätzt, in wie geringem Maße wir letztlich die juristische Absicherung der »Tour de Terror« gewährleisten konnten. Doch gehen wir inzwischen davon aus, dass auch ohne unsere Fehler die Veranstaltung in dieser Form nicht durchzusetzen gewesen wäre. Dennoch — wir haben es versäumt, den politischen Preis für ein Verbot so hoch zu schrauben, wie es möglich gewesen wäre.

Trotzdem — schwerwiegender als individuelle Fehler ist die Tatsache, dass wir den Kern unseres Konzepts, das Bewusstsein der Notwendigkeit einer aktiven Solidarität für die Rechte anderer, nicht vermitteln konnten. Die Lethargie fast aller angesprochenen Gruppen, als es darum ging, solidarisch gegen diesen Versuch, Versammlungsfreiheit zu zerschlagen, Öffentlichkeit zu schaffen, war wohl die eigentliche Niederlage am 9. März.

„Zwischen Resignation und Beliebigkeit schweigt sich die ‚Scene’ zu Tode“

Auch wenn wir unser Konzept immer noch für einen richtigen und notwendigen Ansatz halten, müssen wir uns fragen, warum dieser Ansatz nicht vermittelbar war. Es hat wohl eine wichtige Voraussetzung gefehlt: Zu groß sind die Kluften zwischen den verschiedenen politischen Gruppen, zu klein die gemeinsame Erfahrung an Zusammenarbeit, zu gering das Zusammengehörigkeitsgefühl, das Voraussetzung für die Entwicklung von Solidarität und einer gemeinsamen politischen Praxis wäre.

Diese Verhältnisse innerhalb der Münchner „Bewegungen“ kommen nicht von ungefähr. Ein Versuch, diese Verhältnisse zu thematisieren und ihre Bedeutung für Struktur und Dynamik dieser „Scene“ zu erfassen, wollte der Redebeitrag des Anti-Atom-Plenums bei der »Tour de Terror« sein:

„… Nun sollte man annehmen, dass sich in München, wo sich ein Industriezentrum von internationalem Range bildet, auch Gewerkschaften, linke, politisch tätige Gruppen und auch allgemein gesehen Widerstand gegen die rücksichtslose, über Armut, Ausbeutung und ‚freiwilliger’ Selbstausbeutung gehenden Wirtschaftspolitik herausbildet. Leider ist das Gegenteil der Fall. Ein Standortkriterium war die politische Ruhe vor Ort, und ist die High-Tech-Industrie einmal da, produziert sie den Typ Mensch, der die Ruhe nicht stört. Mit einem solchen Zirkelschluss lässt sich auch die Linie der Münchner Polizei erklären: Das konservative Klima in Bayern begünstigt eine harte Linie und die Ansiedlung sicherheitsempfindlicher Technologien, und diese wiederum benötigen eine noch härtere Polizeigangart.

Münchner Polizeistrategen und Politiker kamen dabei in den Genuss des Vorteils, sehr früh lernen zu dürfen: Nach den Schwabinger Krawallen 1962 wurde auch von Seiten der liberalen Öffentlichkeit Kritik an den harten Polizeieinsätzen und ‚unschuldig’ Verprügelten laut. Der damalige Polizeipräsident Manfred Schreiber und OB Hans Jochen Vogel erfanden danach die sogenannte ‚Münchner Linie’: Schreiber und Vogel hatten richtig erkannt, dass polizeiliches Einschreiten gegen große Menschenmengen immer das Treffen von Unbeteiligten nach sich zieht und im zentralen Blickfeld der Öffentlichkeit steht. Eine zumindest kurzfristige Solidarisierung, wie wir sie auch in Wackersdorf erlebten, ist die Folge. Seit 1962 nun erfolgte die Kriminalisierung einzelner und kleiner Gruppen, Maßnahmen im Vorfeld wie Zeitungs- und Veranstaltungsverbote. Auch ohne Straftaten zu begehen sollen wir damit rechnen, jederzeit unter irgendeinem Vorwand, auch bei legalen Aktionen wie Spontandemonstrationen, festgenommen werden zu können, wenn wir einer bestimmten politischen Richtung zugeordnet werden.

Die Münchner Linie beschränkt sich aber nicht nur auf polizeiliche Vorfeldmaßnahmen, sondern erstreckt sich auf alles, was Ansätze zur Subkultur bietet und langfristig Nährboden für eine politische Tätigkeit sein könnte. Dabei ist mittlerweile ein fast perfektes Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Institutionen entwickelt worden: der Polizei, dem Kreisverwaltungsreferat, der Presse, z.B. mit dem berühmt-berüchtigten SZ-Polizeireporter Johann Freudenreich, dem MVV bis hin zur Feuerpolizei, die beispielweise dazu beitragen sollte, das Anti-WAA-Fest am 2. Oktober 1987 zu verbieten oder dem Infoladen die Nutzung seines Raumes …“

Beispiele für dieses Zusammenspiel bietet nun auch die »Tour de Terror«: Schon im Vorfeld der Veranstaltung versuchte das Kreisverwaltungsreferat den Wirt des Schwabinger Bräus zu einer Vertragskündigung zu bewegen. Das reichte von gezielten Falschinformationen — es würden „lauter verurteilte Strommastensäger“ sprechen — bis hin zur Drohung mit dem Ausländergesetz — der Wirt ist Italiener. Dass das Kreisverwaltungsreferat versammlungsrechtliche Entscheidungen möglichst lange hinauszögert — der Verbotsbescheid für »Tour de Terror« kam 24 Stunden vor Veranstaltungsbeginn — um die Möglichkeiten eines qualifizierten Rechtsschutzes gegen ein Verbot zumindest zu erschweren, ist gängige Praxis. Die Presse gab nach dem Verbot fast unisono die Meinung des Kreisverwaltungsreferates und der Polizei wieder, was vermuten lässt, dass interessierte Journalistinnen, die die von uns zur Verfügung gestellten Informationen verwerten wollten, keine Gelegenheit dazu bekamen, ihre Recherchen zu veröffentlichen.

Doch ob diese „Münchner Linie“, die es bislang geschafft hat, jede gemeinsame politische Auseinandersetzung, jede Entwicklung von politischen Strukturen und eigener Kultur zu verhindern oder notfalls zu zerschlagen, auf Dauer erfolgreich sein wird, liegt an uns. Solange nicht mehr Menschen und Gruppen begreifen, dass nur wirkliche Solidarität hier etwas entgegensetzen kann, werden manche Themen nicht mehr öffentlich zu machen sein, wird langsam aber sicher jede Form von Gesellschaftskritik an den Rand gedrängt werden. Der Konsens der Ausbeuter, Umweltzerstörer und Kriegsbetreiber mit dem Großteil der Gesellschaft bleibt durch keinen Misston getrübt.

Bei aller Ratlosigkeit, die das Verbot der »Tour de Terror« und das vorläufige Scheitern unseres Konzeptes bei uns hinterlassen hat, sind wir uns über eins im Klaren: Wir dürfen diese Tour de Terror von ignoranten Bürokraten, reaktionären Ordnungspolitikern und paramilitärischen Polizeieinheiten, der jede kritische, nicht auf platten Legalismus ausgerichtete Opposition ausgesetzt ist, nicht länger hinnehmen!

„Wenn wir nicht sagen können, was wir denken, wie können wir dann wissen, was wir wollen, und erkennen — was tun?“

Bleiben wir dabei, dass wir die Diskussion um die Perspektiven von Protest und Widerstand gemeinsam führen müssen, auch wenn die Schere im Kopf mit jedem Schritt der Repression größer zu werden droht. Denn die Entwicklung radikaler Ideen und Handlungsansätze ist Voraussetzung für die Veränderbarkeit jeder Gesellschaft. Sie benötigt den Gebrauch des erkämpften Rechts auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Sie benötigt Diskussionen, auch öffentliche, die radikal und ehrlich sein müssen. Sie benötigt den Protest und den entschlossenen Widerstand von Menschen, die zur Sicherung unserer Lebensgrundlagen und für die Utopie einer freien selbstbestimmten Gesellschaft bereit sind. Deshalb müssen wir solidarisch dafür eintreten, dass die Freiheit der Versammlung nicht vom Staat zugestanden wird, sondern selbstverständlich ist. „Freiheit ist immer noch die Freiheit des Andersdenkenden“ — ein Satz der gerade in der letzten Zeit sehr oft vergewaltigt und pervertiert worden ist, der aber trotzdem für uns nicht an Bedeutung verlieren darf.
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12.10.85: Großdemonstration in München gegen die WAA Wackersdorf. Die Polizei versucht einen der drei Demonstrationszüge zu spalten, um gegen den „Schwarzen Block“ vorgehen zu können. Am Abend wird ein Straßenfest in Haidhausen eingekesselt. Es kommt zu mehreren Verletzten und 155 Festnahmen. Diese von der Polizei selbstinszenierten „Haidhausner Krawalle“ dienen in den nächsten Wochen als Vorwand, um ein faktisches Demonstrationsverbot über München zu verhängen.
19.10.85: Eine Demonstration gegen die Vorfälle vom 12.10. wird verboten, es kommt zu 45 Festnahmen. Eine daraufhin für den
30.10.85 angemeldete Kundgebung wird ebenfalls verboten.
16.12.85: Das erste Hüttendorf in Wackersdorf wird geräumt, 870 Personen werden dabei festgenommen.
7.1.86: Das zweite Hüttendorf im Taxöldnerforst wird geräumt, mit wieder über 700 Festnahmen.
Ostern 86: Ein Camp von WAA-Gegnerlnnen wird eingekesselt und geräumt, alle verhaftet und 37 Stunden in Gewahrsam behalten.
7.6.86: Trotz höchstrichterlichen Verbots demonstrieren ca. 30.000 Menschen zum WAA-Bauzaun.
15.6.86: Ein Straßenfest gegen WAA und Ausländerfeindlichkeit in München wird verboten.
4.10.86: Eine Anti-WAA-Demonstration kurz vor den Landtagswahlen wird verboten. Ca. 10.000 Menschen nehmen an der Kundgebung auf dem Königsplatz teil. Der Versuch, trotz des Verbots eine Demonstration durch die Innenstadt durchzusetzen, scheitert.
16./17.10.86: Blockadetage in der Oberpfalz: Unter dem Vorwand „Terroristenfahndung“ werden mehrere Wohnungen durchsucht. Alle Demonstrationen und Kundgebungen werden verboten. Eine Demonstration in Schwandorf endet mit der Einkesselung und Festnahme von ca. 300 Leuten.
4.11.86: In München wird eine Veranstaltung zur Situation politischer Gefangener kurz vor Beginn verboten und von der Polizei aufgelöst.
28. – 30.11.86: Die Bundeskonferenz der Anti-Atom-Bewegung in Regensburg wird verboten.
17./18.11.87: Die nachfolgende Bundeskonferenz im Nürnberger KOMM wird ebenfalls verboten. Sie kann aber — vor allem wegen der breiten Unterstützung — durchgesetzt werden.
13.3.87: In München wird eine Veranstaltung zum Lagerkrieg in Palästina verboten und aufgelöst.
Juni 87: Eine Aufführung von Haydns Schöpfung, vom Bund Naturschutz als Anti-WAA-Konzert geplant, wird untersagt.
7. und 8.10.87: Während der Herbstaktionen in der Oberpfalz werden zwei Plena von WAA-Gegnern von der Polizei geräumt.
10.10.87: Eine Großdemonstration zu Bauzaun in Wackersdorf wird verboten. Trotzdem demonstrieren 40.000 Menschen zum Gelände.
16.10.87: Ein Solidaritätsfest für die Zeitschrift „Freiraum“ wird vom KVR mittels Druck auf den Pächter der Räume verhindert.
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Um die durch die Veranstaltung aufgeworfene Fragen und unser weiteres Vorgehen gemeinsam mit allen anderen Gruppen diskutieren zu können, laden wir euch ein zum

Anti-Atom-Plenum am 6. April in der Evangelischen Studentengemeinde, Friedrichstraße 25, 20.00 Uhr.

Eine Dokumentation zu »Tour de Terror« mit den ungehaltenen Reden, Verbotsbegründungen, verschiedenen Stellungnahmen wird demnächst erhältlich sein im Anti-Atom-Büro, Holzstr. 2, 8 München 5, Tel. 089/260 85 50.

Das »Tour de Terror«-Verbot hat uns einen riesigen Schuldenberg hinterlassen: Wir sind auf Spenden an das Anti-Atom-Büro angewiesen. Unser Konto: Rebecca Luther, PGA München, Kto.Nr. 4466 60-809, BLZ 700 100 80.

Wer am 9. März beim Schwabinger Bräu Festnahmen beobachtet hat oder selbst davon betroffen ist, wird gebeten, sich beim Ermittlungsausschuss zu melden: Tel. 089/448 96 38, jeden Dienstag 17 — 20 Uhr.

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V.i.S.d.P.: K. Hinz, Solalindenstraße 13, 8000 München 82.
Eigendruck im Selbstverlag.


Sammlung „Tour de Terror“, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung._