Materialien 1989
Den Widerstand im Alltag organisieren
Zum Stand der Dinge in der Dachauer Straße und in München allgemein
Wie wir bereits am letzten Samstag festgestellt haben, ist das Bauvorhaben an der Dachauer Straße kaum mehr zu behindern. Über die Verschiebung des Flohmarktes, die Zerstörung von „Subkultur“ und die weitere Zerstörung billigen Wohnraumes lässt sich lediglich eine begrenzte Öffentlichkeit am Wochenende herstellen.
Am Beispiel der Dachauer Straße lassen sich hauptsächlich zwei Sachen festmachen:
1. Dass, wenn wir nicht über kurz- oder lang aus dieser Stadt fliegen wollen, wir uns mit dem Angriff auf unseren Alltag auseinandersetzen müssen.
2. Dass wir uns in einem Hauptzentrum des Kapitals, sozusagen im Hirn des Raubfisches Haiteck befinden, wo Widerstand das Gebot der Stunde ist.
Entwicklung des Haiteckbooms in München
Seit dem vermehrten Einsatz von gespeichertem Wissen (Computertechnologien) und von Maschinenarbeit benötigt das Kapital, um Gewinne zu machen, immer weniger menschliche Arbeitskraft. Letztlich ist der Mensch nur mehr als Quelle von Ideen für das Kapital von Interesse (grob gesagt).
Die Folge ist, dass hier in den Metropolen immer mehr Menschen aus dem Arbeitssystem geschmissen und in die Armut geschleudert werden. Das soziale Netz greift hier nicht, da es letztlich den Kapitalinteressen untergeordnet ist oder zu gut deutsch, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Die Ausweitung maschineller Arbeitsweisen war im Grunde die Antwort auf die Arbeiterkämpfe der frühen 70er Jahre und die damit verbundenen Lohnsteigerungen hier in den Metropolen. Die ersten Rationalisierungswellen rollten deshalb auch in die alten Arbeiterreviere Norddeutschlands. In den Industriezentren von Bergbau und Werften beispielsweise, aber auch bei MAN, Krauss Maffei und BMW in München wurden eine Vielzahl von Arbeitern und damit Lohnkosten eingespart. Gleichzeitig verlagerte das Kapital viele Werke in die Billiglohnländer des Trikont.
Entsprechend weitete es den Dienstleistungssektor, d.h. grob vereinfacht, also den Bereich, in dem die Arbeitereinsparungen entwickelt und verwaltet werden, aus. Es gibt mehrere Gründe, warum sich das Kapital dafür entschied, das Gehirn des Haiteck in München anzusiedeln. Entscheidend dafür war, dass in dieser Metropole mit den geringsten Widerständen gegen die o.g. Umstrukturierung zu rechnen war. Seit der Zerschlagung der Räterepublik 1918 war jeglicher Ansatz von linker Gegenmacht zerstört worden. Die Stadt ist seitdem ein Spielball der Wirtschaft.
Zwischen Technologieboom und Resteverwertung
Bereits die Wirtschaftsstrategen des Faschismus planten, die halbe Stadt abzureißen und industriegerecht mit Monumentalbauten versehen wieder aufzubauen. Diese Planungen konnten nach den Zerstörungen des Krieges z.T. in die Tat umgesetzt werden (Z.B: Mittlerer und äußerer Ring). Seither sind hier Wirtschaft und Politik bestens aufeinander eingespielt. München ist seit Anfang der 60er Jahre Vorreiter bei der Stadtentwicklungsplanung.
Es ist nicht verwunderlich, dass der Haiteckboom von heute regelrecht vorausgeplant war. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang der sog. „Münchner Kreis“. Von den Mitgliedern dieses Kreises gingen seit 1977 die wichtigsten Entscheidungen im Bereich der Stadtplanung und bei betriebsinternen Umstrukturierungen aus. Der „Münchner Kreis“ setzt sich aus Vertretern von Hochschule, Wissenschaft, Kammern und Verbänden, den wichtigsten herstellenden Industrien, sowie aus allen Bereichen von Stadt und Staat zusammen. Der Vorsitzende dieses Kreises war auch gleichzeitig Vorsitzender der Bundeskommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems, d.h. er war der Verantwortliche für die Infrastruktur der neuen Computertechnologien in der BRD zur Zeit der oben beschriebenen Umstrukturierungen. Die hier offensichtliche Gleichschaltung von Politik und Wirtschaft lässt sich in München bis auf die untersten Verwaltungsebenen von wenigen Ausnahmen abgesehen zurückverfolgen.
Im Laufe der 80er Jahre verstärkte sich das Konkurrenzverhältnis zwischen München und den anderen Haiteckmetropolen, z.B: Yokohama, das den Beinamen „Technopolis“ führt. Charakteristisch für diese Zentralen ist der Wettbewerb um die besten Informatikspezialisten. An dieser Klasse, den Yuppies, richtet sich derzeit ein Großteil der Stadtentwicklung aus.
Reich rein, arm raus
Um die Yuppies und ihren zahlenmäßig wesentlich größeren Anhang nach München zu locken, werden sämtliche innenstadtnahen Wohnräume durch Luxussanierung aufgewertet. In Verbindung mit den prallen Portemonnaies der Yuppies explodieren in der Folge die Mietpreise. Die nach den Rationalisierungen in den großen Münchner Betrieben entstandene Neue Armut wird verstärkt. Zugleich entsteht eine Tendenz, die ärmere Leute auf Grund der hohen Lebenshaltungskosten aus dem Stadtgebiet treibt, was den Herrschenden sicher recht ist. Verbirgt sich hinter der Neuen Armut doch auch ein Kriminalitäts-/Unruhepotential.
In Zahlen spiegelt sich die Münchner Wohnungssituation wie folgt wieder:
Die Mieten liegen 50 Prozent über BRD-Ø; jährlich 20.000 Sozialwohnungsanträge stehen ca. 1.500 Sozialwohnungsneubauten gegenüber, darunter die hundert Feigenblattwohnungen an der Dachauer Straße. München weist die höchste Umzugsziffer (innerhalb des Stadtgebietes) auf, nämlich 100.000 jährlich. Die Zahl der registrierten Obdachlosen ist letztes Jahr um über zehn Prozent auf etwa 10.000 angestiegen, davon ca. hundert Kinder unter 14 Jahren (meist Flüchtlinge). Täglich werden im Ø drei Zwangsräumungen durchgezogen sowie eine noch höhere Zahl an Räumungsklagen. In die Neue Armut fällt alles, was sich dem Haiteck nicht anpasst.
Nach K.-H. Beckurts, ehemaliger Siemensvorstand: „Als einzelner besteht den technologischen Wandel nur, wer über hinreichende fachliche Kenntnisse verfügt und sie auch auf dem Laufenden hält.“ (zitiert aus: Der Technologische Wandel, Vortrag vor der Friedrich-Ebert-Stiftung 1984)
Das sind v.a. Frauen, Alte, Krüppel, Ausländer, alle sog. Unterqualifizierten z.B: HauptschülerInnen, die den Wandel nicht bestehen. Um die Yuppies anzulocken, wird aber nicht nur auf dem Wohnungssektor gearbeitet, auffällig ist, wie an allen Ecken und Enden am Image der Weltstadt rumpoliert wird.
Image und Stadtk1ima
Dies lässt sich z.B: an den architektonischen „Errungenschaften“ der letzten Jahre ablesen. Repräsentative Glaspaläste im Stile des bis dato einmaligen Hypoturms schießen wie die Pilze aus dem Boden. So werden sich die Bauten an der Dachauer Straße diesem Stil auch anpassen. Auch im Bereich der Kulturpolitik wird versucht, das Image aufzuwerten. Neben der Anziehungskraft, die die Hochkultur inzwischen weltweit genießt, kommt sie zugleich einem wichtigen Bedürfnis der Haiteckspezialisten entgegen. Sie suchen für die extremen Arbeitsanforderungen, die an sie gestellt werden, nach anspruchsvollem Ausgleich. Das geplante sog. „Naturkundliche Bildungszentrum“ – laut Bebauungsplan eine Art geographisches Museum „von internationalem Rang“ – ist ebenso der Imagepflege zuzuordnen wie die steigende Zahl von Messen und Kongressen.
Um das Image nicht zu gefährden, sind die Herrschenden bemüht, ein ganz bestimmtes Stadtklima aufrechtzuerhalten. Orte, „in denen Sitten, Systeme und Strukturen ein hohes Bildungsniveau, Leistungsbereitschaft, Flexibilität und kreative Spielräume verhindern, haben schwerwiegende Nachteile“ … und, „ein wesentliches Anliegen muss daher sein, einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit und Richtung der technologischen Entwicklung zu erreichen.“ (Beckurts). Diese technologiefreundliche „Konsenspolitik“ wird von dem von Toleranz/allgemeine Ruhe geprägten Stadtklima ergänzt.
Spätestens seitdem die Arbeitskräfteeinsparungen auch im Büro/Verwaltung/Dienstleistungssektor verstärkt durchgeführt werden, nimmt die Neue Armut in München ähnliche Ausmaße wie im Norddeutschen Raum an. Die wachsende Armut stellt jedoch eine Gefahr für den heiligen Stadtfrieden dar. Bisher wurde diesem Problem dadurch begegnet, dass die Existenz der Verarmten schlichtweg geleugnet wurde. Im Gegensatz zu den anderen Großstädten, gab es nicht einmal eine offizielle Armenstatistik.
Begünstigt wurde diese Verschleierungstaktik durch das Prinzip der „sozialen Streuung“. Diese Methodik stammt aus den USA und wurde als Antwort auf die „Wachsende Kriminalität in den Städten“ auf einem Bundessymposium des BKA’s gleichen Titels erstmals in Westdeutschland diskutiert.
Die damals entwickelten Vorstellungen haben sich inzwischen bundesweit durchgesetzt. Neben der postmodernen Architektur, die hauptsächlich auf einem System gegenseitiger Kontrolle der Bewohner basiert, wird im Besonderen Wert darauf gelegt, dass durch eine räumliche Vermischung der Bevölkerungsschichten ein Zutagetreten von Unterschieden (z.B: Reich/Arm) in Form von Ballungen vermieden wird. Konkret auf München bezogen heißt das, dass Planungen für riesige Sozialviertel wie Neuperlach aufgegeben wurden und die Neue Armut räumlich versteckt wird. Die Obdachlosen sind deshalb auch völlig gleichmäßig über das gesamte Stadtgebiet verstreut „untergebracht“.
Die von der Neuen Armut Betroffenen begreifen ihre Situation als eine individuelle, persönlich verschuldete. Dass sie aus dem System relativer sozialer Absicherung planmäßig ausgesondert wurden, lässt sich kaum erkennen.
Seit der Erstellung der Studie „Neue Armut in München“ (Sozialreferat) ist das Armutspotential nicht mehr so einfach zu verleugnen. Kein Tag vergeht mehr, ohne dass in den Münchner Tageszeitungen nicht versichert wird, dass alles Menschenmögliche unternommen wird, um den „Armen Mitbürgern“ zu helfen. Bezweckt wird mit der „Armutskampagne“ von oben, dass der Konsens erhalten bleibt und dem Haiteck auch nicht nur ein Zähnchen gezogen wird. Der Zustand der Verarmung im reichen Technopolis München soll als ein unabwendbarer naturgemäßer Ablauf verinnerlicht werden, Widerstand dagegen schon von vornherein als sinnlos diffamiert werden. Das sozialdemokratische Pufferkonzept („Solidarische Stadtgemeinschaft“) spielt in diesem Rahmen eine ebenso wichtige Rolle wie die Kulturpolitik des neuen Referenten Hummel.
Widerstand im Alltag
Um die Angriffe auf unseren Alltag wie aktuell in der Dachauer Straße abwehren zu können, müssen wir ein langfristiges Engagement entwickeln, wir müssen uns über die Mechanismen, die unseren Alltag und diese Stadt bestimmen, im Klaren sein, wir müssen die Schwachpunkte im System der Aussonderung von wertlosem Menschenmaterial herausfinden und wir müssen mehr Leute werden. Unter diesen Gesichtspunkten sollte auch die Veranstaltung am 20. Januar organisiert sein.
Diskussionspapier, Sammlung Autonome, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.