Flusslandschaft 1963

Kunst/Kultur

AKTIONEN

In Hamburg diskutieren im Sommer Rodolphe Gasché, Dieter Kunzelmann, Marion Steffel-Stergar (Dekorateurin aus Wien) und Peter Pusch (Grafiker und Drucker) den Plan einer neuen revolutio-
nären Gruppe Subversive Aktion. Im November befindet sich Kunzelmann in München, Gasché in Berlin und Christofer Baldeney in Nürnberg/Erlangen. Sie rekrutieren Sympathisanten. Die fest Engagierten veranstalten zur Erforschung der individuellen Motivationen für revolutionäre Praxis Gruppensitzungen, bei denen alle Anwesenden „die Seele auf den Tisch legen“ müssen (intern als „Psychoamoks“ bezeichnet).

ARCHITEKTUR

Das Nationaltheater wird wieder aufgebaut. Architekten um den 1941 geborenen Thomas Herzog (1972 Promotion, seit 1973 Professor in Kassel, dann in Darmstadt) protestieren gegen die rein hi-
storisierenden und ihrer Meinung nach nicht zeitgemäßen Pläne.1

BILDENDE KÜNSTE

Mitte Januar erinnert in einer renommierten Schwabinger Galerie eine Gedächtnisausstellung an den viel zu früh verstorbenen Künstler Bolus Krim.2

„Indem sie die Bankette an den Gehsteigen der Münchner Leopoldstraße mit Rasen besäte, ver-
suchte die Stadtverwaltung erfolglos, den hier grassierenden freien Kunstverkauf während der Nachtstunden zu unterbinden. Die Maler, Kunsthandwerker, Fotographen und Neugierigen wi-
chen auf alle erreichbaren grasfreien Stellen aus. Inzwischen mehren sich bei den freischaffenden Ausstellern Klagen über Professionals, welche die süßlichen Produkte einer Glaserladenkunst durch Mittelsmänner an der Leopoldstraße vertreiben lassen.“3

Seit 1957 lehrt er wieder an der Münchner Kunstakademie: Prof. Hermann Kaspar (19. April 1904 in Regensburg – 2. August 1986 in Lindau). Die Amerikaner hatten ihn nach 1945 entlassen, da er zur Kulturprominenz des III. Reichs gehörte, mitverantwortlich war für die Gestaltung der Umzüge zum „Tag der Deutschen Kunst“ in München und Möbel, Decken und Fußböden für Hitlers „Neue Reichskanzlei“ in Berlin entworfen hat. 1938 bekam er an der Münchner Kunstakademie den Lehr-
stuhl des als „entartet“ entlassenen Prof. Karl Caspar. Heute bekommt der Nazikünstler wieder zahlreiche staatliche Aufträge. Am 5. November 1963 wählt die Mitgliederversammlung des Be-
rufsverbandes Bildender Künstler
Hermann Kaspar in seine Vorstandschaft. Daraufhin verlässt Prof. Maria Caspar-Filser, die Witwe Karl Caspars, unter Protest den Verband; eine junge Kunst-
studentin schließt sich an: „Fast jeder Student weiß heute, welche Rolle Hermann Kaspar in der Kunst des 3. Reichs gespielt hat. Dazu kommt noch, dass seine künstlerische Aussage (sofern überhaupt vorhanden) und seine Einstellung heute noch von dem unseligen Geist jener Zeit zehrt und gespeist wird. Ich selbst habe 7 Semester in Kaspars Akademieklasse Gelegenheit gehabt, mich davon zu überzeugen. In seinen Besprechungen sprach er von keinem geringeren als Rembrandt von einem ‘Schmierer’ und ließ auch keinen Zweifel daran, dass er die Kunstpolitik des 3. Reiches bejaht hatte und sie wieder bejahen würde. Niemand macht Kaspar das Recht auf Arbeit streitig, aber das Recht auf jegliche Beeinflussungsmöglichkeit, vor allem auf die Jugend, und jegliche Jurorentätigkeit hat er ganz einfach für immer verwirkt.“4

THEATER

Die da oben, die da unten – Die da unten müssen auf Jahre voraus planen, die da oben entschei-
den sich kurzfristig. Die da unten quälen sich in Hierarchien, auf deren verschiedenen Ebenen die Inhalte so lange gedreht, gewendet, begutachtet, zerpflückt, verworfen, wieder ans Tageslicht ge-
zerrt, domestiziert, für politische Zwecke instrumentalisiert und am Ende nicht selten in ihr Ge-
genteil gewendet werden, dass diese am liebsten nie das Tageslicht gesehen hätten. Die da oben lassen die Inhalte 1 zu 1 auf die Bühne. Die da unten sind traurige Figuren mit massenhafter De-
mark und sie produzieren für traurige Figuren, die Demarkgestopft und breit auf ihren Prestige-
abonnements hocken. Die da oben sind stets prekär, sind stets in ihrer Existenz gefährdet, sind führend in der Disziplin der Selbstausbeutung. Die da unten werden in den bürgerlichen Feuille-
tons gefeiert, die da oben, wenn sie überhaupt erwähnt werden, dann verachtet, gönnerhaft beur-
teilt oder als exotisch belächelt. Ganz selten erkennen einzelne wenige Kritikerinnen und Kritiker, dass die kleinen, „freien“ Theater den Humusboden bilden, auf denen Neues wächst, und das mit großer Energie angesichts vielfältiger Bedrohungen: Geeignete Räume müssen gefunden und deren Übernahme verteidigt werden, Miete ist regelmäßig fällig, Gelder müssen aquiriert werden, die Truppe, die sich gefunden hat, investiert viel in Beziehungspflege, niemand kann krank werden, keine Vorstellung darf ausfallen und jede Vorstellung ist jedes mal ein neuer, riskanter Parvorce-Ritt zwischen Avantgarde und Experiment. Die einen tragen prächtige Kleider und haben nichts an, die anderen tragen Lumpen, verfügen über den ganzen Reichtum ihrer Existenz und nehmen uns auf ihrer Reise mit: Uta Emmer und Kelle Riedl gründen das Moderne Theater in der Hesselo-
herstraße 3 in Schwabing.

„Eine öffentliche Lesung der wichtigsten Szenen aus Hochhuths ‚Stellvertreter’ bereitet die Huma-
nistische Studenten-Union
München vor. Unter der Leitung von Regisseur Walter Ohm vom Baye-
rischen Rundfunk
wird am 11. Juli im Münchner ARRI-Filmtheater in der Türkenstraße 91 in der Maxvorstadt eine ca. anderthalbstündige Kurzfassung des Stückes gelesen, die der Autor selbst für diesen Anlass zusammengestellt hat. Die Humanistische Studenten-Union München möchte mit dieser Veranstaltung dagegen protestieren, dass in einer Stadt wie München sich bisher noch kein Theater zur Aufführung dieses wichtigen Zeitstückes entschlossen hat. Die Leseaufführung wird voraussichtlich am folgenden Abend des 12. Juli wiederholt. In der darauf folgenden Woche arran-
gieren die Studenten dann für Interessierte im Publikum eine Diskussion.“5 Es lesen Hanns Ernst Jäger, Alois Maria Giani, Gerd Baltus, Fritz Strassner, Hans Stein und Wolffried Lier.


1 Mitteilung der Architekten Eckart Michael Böck und Jochen Bauer am 6. November 2009.

2 Siehe „Letzter Gruß an Bolus Krim“ von Karl Stankiewitz.

3 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 23 vom Oktober 1963, unpag.

4 Reinhard Müller-Mehlis, Der Fall Hermann Kaspar, München (1966), 18 f.

5 Mitteilungen der Humanistische Union 9 vom Mai/Juni 1963, 2.