Materialien 1989

Paranoia vor dem Fremden

Eine Rede zur Verleihung der „Löwenpfote“

Vierzig Jahre lang ist alles gut gegangen. Vierzig Jahre lang ging es mehr oder weniger aufwärts mit dem Kapital, mit dem Ansehen, mit der Kultur.

Wenn es die lästigen Jahrestage nicht gäbe, die uns mit Penetranz an die andere Seite unserer Geschichte erinnerten, wenn da nicht immer noch das andere Deutschland existierte, das sich aus eigener Kraft durchwursteln musste und deshalb immer noch aussieht wie Deutschland, wenn es nicht ein paar Probleme gäbe mit Arbeitslosen und Umwelt, dann könnten wir beruhigt die Beine unter dem Tisch ausstrecken und uns das Unglück der anderen aus der Zeitung erzählen lassen: Flüchtlinge überall, Folter, Armut, Hunger. Dennoch ist unser Geld in diesen Gegenden gut aufgehoben: es vermehrt sich. Wer nichts zu essen hat, arbeitet auch für geringen Lohn. Das geht in Ordnung. Man hat, wir haben uns in die glückliche Lage versetzt, helfen zu können, helfen zu dürfen. Wo immer ein Unglück passiert, wann immer man uns anruft, wir sind zur Stelle: mit Medikamenten, Geld, Maschinen, geistigem Beistand. Der vor Hunger Verreckende erhält von uns sein letztes Stück Brot; das vor Durst schreiende Kind bekommt von uns seine tägliche Milch; und wenn den armen Ländern die Schulden über den Kopf wachsen, erlassen wir sie ihnen gelegentlich und geben neue Kredite. Die christliche Ethik, die Verantwortungsethik, funktioniert auch ohne Gott: wir teilen Mantel und Brot, und weil wir auch ohne Gott so gottgefällig leben, werden wir zur Belohnung sogar immer reicher. Dieser Reichtum war und ist wohl ein wenn nicht der Grund dafür, dass wir alle gesellschaftlichen Krisen ohne großen Schaden gemeistert haben: vom Terrorismus bis zu den Studentenunruhen, während die kleinen Krisen und Skandale – von der Parteispendenaffäre bis zum Historikerstreit – geradezu ein Indiz dafür sind, wie gut unser Immunsystem funktioniert. Wir brauchen Skandale, um die Qualität unserer Abwehr zu testen.

So weit, so gut. Man war uns dankbar, und wir nahmen dankbar und gerührt die Gesten der Dankbarkeit entgegen: aufgeklärt, internationalistisch, demokratisch. Nationalistische Tendenzen, die NPD oder der Herr Dr. Frey mit seiner Nationalzeitung konnten nur Hysteriker aufschrecken, das war alles zu bieder, zu miefig und sektiererisch für den Normalbürger, der in der ganzen Welt Urlaub machte, dem ein Türke den Müll wegschaffte, ein Jugoslawe die Straße kehrte und ein Pakistani die Zeitung brachte.

Dieser Frieden mit den Ausländern und ihren selbstverschuldeten Problemen ist seit einiger Zeit gestört. Der Ausländer ist unser Problem geworden. Was vierzig Jahre so gut und mehr oder weniger reibungslos lief, läuft nicht mehr. Früher hatten wir den Ausländer gebeten, zu uns zu kommen und uns bei der Arbeit zu helfen, und wir haben ein Auge zugedrückt, wenn er sein Geld nach Hause geschickt hat. Jetzt will er plötzlich bleiben, mit seinem verdienten Geld. Jetzt spricht er plötzlich unsere Sprache, er beherrscht sie geradezu. Erst will er einen Platz im Kindergarten für sein Kind, jetzt sitzt es schon im Gymnasium, schon hat es Anspruch auf einen Arbeitsplatz.

Man sieht gar keine Deutschen mehr, nur noch Ausländer. Überall Turbane, dunkle Gesichter, afrikanische Gewänder. Bei den Philharmonikern Schlitzaugen. Unsere Tochter spielt auch Geige, kriegt aber keinen Job. Und jetzt kommen aus Russland Deutsche, die nicht einmal unsere Sprache sprechen. Und was passiert, wenn morgen die Juden zurückkommen? Bislang hat sie keiner gebeten, Gott sei Dank, aber wenn Herr Kohl plötzlich auf die Idee käme, was dann? Sieben Millionen und ein paar Zerquetschte sollen übrig sein – wohin mit ihnen? Jeder zehnte Bundesbürger ein Jude, was soll das? Und die Zigeuner? Und überall polnische Autos, die nicht durch den TÜV kommen und hässlich aussehen und stinken. Und bei der Post steht einer vor mir, dem offenbar der Gebrauch von Deodorant unbekannt ist.

Wir brauchen diese Leute nicht. Wir brauchen sie nicht, weil wir sie nicht wollen. Was will der Pole in Deutschland, fünfzig Jahre nach dem Überfall auf Polen? Wir schicken unsere Tochter auch nicht nach Pakistan, um dort den Haschisch-Anbau zu studieren. Multi-Kulturalität hat ihre Grenzen. Wenn Herr Stoiber durch einen Neger ersetzt wird, Herr Dregger durch einen Pakistani, Herr Waigel durch einen Jugoslawen mit Goldzähnen? Wo leben wir eigentlich?

Schönhuber war überfällig, und er ist, von der Mischung her, ideal zusammengesetzt: Mitglied der Waffen-SS, erst der SPD, dann der CSU nahestehend: er kennt das Spektrum. Schon sitzt er in den Parlamenten, an der Uni, im Fleisch – und alle guten Deutschen sind ratlos oder klammheimlich froh oder entsetzt: endlich ein Thema, bei dem die gesellschaftliche Kommunikation – so oder so – gelingt: jeder spricht mit, ist – so oder so – engagiert. Ja, das muss man dem ehemaligen Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks lassen: er versteht es, ein Thema zu inszenieren.

Die Bundesrepublik hat sich verändert, seit das Ausländer- und Asylanten-Thema auf dem Tisch und in aller Munde ist. Auch der Deutsche hat sich verändert. Hinter der Maske des Demokraten ist sein wahres Gesicht zum Vorschein gekommen, rechtzeitig zu den großen Jubiläen: fünfzig Jahre nach Kriegsbeginn, vierzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und Formulierung der Verfassung. Der Blick hat sich geschärft, in allen Lagern: paranoide Überfremdungsphantasien, das dummdreiste Geschwätz von nationaler Homogenität, wie es das Innenministerium verbreitet, der Ruf nach Grundgesetzänderungen. Der demokratische Staat, durch Langsamkeit in der Urteilsbildung und Beschlussfassung definiert, soll plötzlich zu schnellen Entschlüssen kommen. Warum eigentlich? Das Kapital darf geräuschlos die Grenzen überschreiten und sich geräuschvoll in Waffen materialisieren, der Mensch darf es nicht einmal als Verfolgter. Und wenn er es dennoch geschafft hat, dann darf er keine Wohnung kriegen, weil nach dem Urteil des deutschen Verwaltungsgerichtshofs in Baden-Württemberg das Wohnen nach der gültigen Bauordnung eine auf Dauer gerichtete Haushaltsführung voraussetzt – aber welcher politische Asylant kann diesem deutschen Reinheitsgebot entsprechen?

Übrigens sind auch Altenpflegeheime in reinen Wohngebieten verboten, hat dasselbe Verwaltungsgericht verfügt. Fehlen nur noch die Kinder. Nach einem Bericht der SZ vom 1. August musste die Sozialhelferin Rosi Schiegerl von der Münchner Anlaufsteile für Asylbewerber ein Jahr lang bei der Regierung für ein Spielzimmer kämpfen: „Im Lager brauchts das net!“ – war die Antwort. Wer noch kein Mit-Bürger ist – und Herr Dregger hat es in seiner demokratisch-charmanten und korrekten Weise gesagt: Ausländer sind keine Mitbürger – der braucht auch nicht spielen.

Warten soll er. wenn er dann schon unbedingt nach Deutschland will. Warten, bis er depressiv ist. Aber Depressionen kennen die Herren Politiker nicht, suizidale Regungen sind ihnen fremd, wahnhafte Angst vor Verfolgung kann sich ein Regierungsbeamter mit Pensionsanspruch nicht vorstellen. Entwurzelungsdepression heißt der korrekte Begriff, den man bei der Untersuchung von verfolgten und exilierten Juden gewonnen hat – schon wieder die Juden. Sie bringen Unvergleichbares zusammen, heißt die Standardantwort. Ja ich weiß, ich weiß. Aber wer sich durch die Zeitungsberichte des letzten Jahres gelesen hat, der muß das Unvergleichbare in einen Zusammenhang bringen, um überhaupt eine Perspektive zu haben. Denn was hier – mit unser aller Billigung, mit meiner Billigung – passiert, ist nur durch Überdeutlichkeit als das kenntlich zu machen, was es ist: Rassismus. Diese Krankheit hat uns alle befallen, nur ist sie bei einigen gottlob noch nicht voll ausgebrochen. Im Lager brauchts net a Spielzimmer – das ist Rassismus. Die Angst vor der „durchmischten und durchrassten“ Gesellschaft – das ist schon Rassismus, auch wenn dieser Begriff später zurückgenommen wurde. Wenn der Moosacher-Stadtrat sagt: „Wir müssen uns gegen die immer stärkeren Ströme von Obdachlosen und geduldeten Asylbewerbern schützen“ – dann ist das schon der Ausbruch der Krankheit. Wenn Ausländerpolitik nur noch als Arbeitsmarktpolitik praktiziert wird – dann ist das schleichender Rassismus.

Michael Krüger


Stadtmagazin München 1 vom 5. Oktober 1989, 18 f.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: AusländerInnen

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