Materialien 1989

Wegen Werkzeug weggesperrt

Bayern will „erkennbare Störer“ vorbeugend in Gewahrsam nehmen

Der Rechtsstaat scheint sich in Richtung „Ordnungszelle Bayern“ oder Überwachungsstaat zu bewegen. Die laut werdende Forderung nach einem besonderen Schutz von polizeilichen Zeugen durch Gerichte und Staatsanwälte lässt die „Initiative bayerischer Strafverteidiger“ befürchten, dass künftig die Polizei zur „Herrin des Verfahrens“ werden könnte. Sorgen bereitet liberalen Juristen auch die im Freistaat zunehmende Militanz polizeilicher Einsatzkräfte, etwa das vom Innen-Staatssekretär Peter Gauweiler initiierte und vor den Medien zur Abschreckung demon-
strierte, aus Freiwilligen der Bereitschaftspolizei rekrutierte „Unterstützungskommando“ (USK). Von ganz besonderer Brisanz aber ist ein geplantes Unterbindungshaft-Gesetz.

Unbescholtene und unbeteiligte Autofahrer, die im Kofferraum einen vollen Benzinkanister hatten und zufällig in die Nähe einer Demonstration gerieten, mussten auf dem Territorium des Freistaa-
tes Bayern ab 1. April 1989 bei einer polizeilichen Straßenkontrolle damit rechnen, abgeführt und für zwei Wochen eingesperrt zu werden. Das war kein Aprilscherz, sondern ein Szenarium, wie es aus einem in der Bundesrepublik einzigartigen „Beispiel- und Prognosekatalog“ zu einer neuen Ge-
setzesbestimmung hervorging. Der Benzinkanister konnte ja, nach der „Prognose“ der Polizei, als Molotow-Cocktail verwendet werden.

Sogar ein Wagenheber, ein Campingmesser, eine Fahrradkette oder ein Motorradhelm mit Visier konnten ausreichen, um den Fahrzeugbesitzer oder auch seine Begleitperson ganz schnell hinter Gittern verschwinden zu lassen, meinte der Grünen-Abgeordnete Hartmut Bäumer, der selbst Richter war. „Horrorvisionen“, beschwichtigte indes die CSU. Sie hatte den sogenannten „Unter-
bindungsgewahrsam“ im Eilverfahren durch den Landtag gepeitscht. Die entsprechende Änderung des Polizeiaufgabengesetzes trat also unverzüglich „in Kraft“ – im Sinne des Wortes.

Allzu kraft- und wirkungslos erschien dem neuen Innenminister Edmund Stoiber die bisherige, auch in anderen Bundesländern geltende Bestimmung, wonach die Polizei einen erkennbar po-
tentiellen, Straftäter für 48 Stunden in Gewahrsam nehmen konnte. Das hatte sich im Oktober 1987 gezeigt, als die Polizei um 6 Uhr morgens 73 Personen, die zu einer Demonstration nach Wackersdorf aufbrechen wollten, in einem Oberpfälzer Dorf „vorbeugend“ festnahm, beim Amts-
gericht Amberg aber keinen einzigen Haftbefehl erwirkte. Alle waren sie zwar WAA-Gegner, aber keiner war im Besitz eines gefährlichen Gegenstandes angetroffen worden.

„Strafbare Handlungen müssen unmittelbar bevorstehen“, wies das Gericht damals die Haftanträ-
ge zurück. Sie müssten einen „erheblichen Wahrscheinlichkeitsgrad“ haben. Auf solche Rechtsun-
sicherheit wollte sich die Exekutive des Freistaats nicht länger einlassen. Das neu formulierte Poli-
zeiaufgabengesetz beugte richterlicher Beweisaufnahme und möglicher Beweisnot buchstäblich vor.

Keineswegs handle es sich da um eine „Lex Wackersdorf“, versicherte der für die Sicherheit im Staat verantwortliche Minister Stoiber im Landtag, während zwei Frauen auf der Zuschauertribüne ein Transparent mit der Aufschrift „Das Recht wird beerdigt“ entrollten und sofort vom amtieren-
den Präsidenten Helmut Rothemund (SPD) des Saales verwiesen wurden. Vielmehr gäbe es kon-
krete Erkenntnisse über drohende Straftaten im Zusammenhang mit dem 100. Geburtstag von Adolf Hitler am 20.April. Der Rechtsstaat werde mit dieser Novelle gestärkt und nicht gefährdet.

Da wegen der rechtsextremen Gefahr, wie sie die bayerischen Verfassungsschützer ausgemacht hatten, offenbar Eile geboten war, lehnte die CSU die von den beiden Oppositionsparteien bean-
tragte Expertenanhörung knallhart ab. Sozialdemokraten und Grüne luden deshalb selbst eine Reihe von Staatsrechtlern sowie Praktikern von Polizei und Justiz aus der ganzen Bundessrepublik zum Hearing. Der allgemeine Tenor dabei: Die geplante Gesetzesänderung sei undurchdacht, un-
nötig, unpraktikabel und wahrscheinlich verfassungswidrig. Sie sei, so folgerte der SPD-Rechtsex-
perte Klaus Warnecke, ein weiterer Schritt auf dem Weg zum „kernkraftorientierten Exekutiv-
staat“. Erstmals in der Bundesrepublik werde ein „Gesinnungsgewahrsam in Form einer Polizei-
haft für vermutete Taten“ eingeführt, rügte der grüne Richter Bäumer.

Für Stoiber jedoch stand außer Zweifel, „dass es rechtsstaatlich ist“. Denn immerhin liege die Ent-
scheidung über die vorläufige Verwahrung bei einem Amtsrichter. Unerwähnt ließ der starke Mini-
ster, dass der Einzelrichter bei starkem Anfall von „Störern“ kaum genügend Zeit haben dürfte, Beweise zu prüfen, dass es zu einer Überschwemmung der kleinen Gerichte kommen könnte. Schon bei groben Ordnungswidrigkeiten sollten die „Schutzmaßnahmen zur Gewährleistung des inneren Friedens“ (Stoiber) laut Gesetzestext greifen. Dazu genügte etwa die Nichtbefolgung eines Platzverweises. Dazu genügte das Mitführen von „Werkzeugen oder anderen Gegenständen, die erfahrungsgemäß für eine Straftat bestimmt sind“. Dazu genügte die Vermummung durch einen Schal vor dem Mund. Selbst Begleitpersonen des so erkennbaren „Störers“ könnten gleich mit ab-
geführt und zwecks „Unterbindung einer Straftat“ eingesperrt werden.

Unterbinden wollte eine parteiübergreifende, außerparlamentarische Bürgergruppe nun das „Unterbindungsgesetz“ durch eine Verfassungsklage: Eine Frauengruppe störte den vorösterlichen Frieden vor dem Landtag mit der plakatierten Frage: „Wer versorgt unsere Kinder, während wir Mütter in Unterbindungsgewahrsam sitzen?“ Und auch die Londoner Zentrale von Amnesty International soll sich bereits für das bayerische „Modell“ interessieren, das eine neue Art von Gefangenen schaffen könnte: die Unterbindungsgefangenen.

Was weiter geschah

Was die bayerische Staatsregierung seinerzeit – unter dem Eindruck einer gewissen Rechtsunsi-
cherheit bei den WAA-Verfahren (die meisten endeten mit Freisprüchen) – vorexerziert hatte, übernahmen inzwischen fast alle Bundesländer, wenn auch nicht ganz so rigoros. Auf diese Rechtslage berief sich auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, als er zum G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 warnte, „gewaltbereite Chaoten“ könnten schon im Vorfeld festgehalten und bis zu 14 Tage in „Unterbindungsgewahrsam“ genommen werden. Auch beim Aufmarsch von Rechtsradikalen wurde potentiellen Teilnehmern von Gegendemos von der Polizei immer wieder Unterbindungshaft angedroht.


Karl Stankiewitz, Weißblaues Schwarzbuch. Skandale, Schandtaten und Affären, die Bayern erregten, München 2019, 243 ff.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: Bürgerrechte

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