Materialien 1989
... der Psychiatrie den Spiegel der Vergangenheit vorhalten ...
Alternative Psychiatrie
Im den Münchner Lokalberichten Nr. 25/89 veröffentlichten wir einen Bericht über das Buch des Psychiaters Dr. Bernhard Richarz „Heilen-Pflegen- Töten, zur Alltagsgeschichte einer Heil- und Pflegeanstalt bis zum Ende des Nationalsozialismus“, das die Vorgänge im Bezirkskrankenhaus Haar bei München schildert.
Im November 1989 führte der „Aubinger Kreis e.V. für alternative Psychiatrie“ mit Dr. Richarz eine Veranstaltung durch. Dazu wurde ein Video-Film über die Tötungsanstalt Hartheim gezeigt, der beim Aubinger Kreis e.V., Siegfriedstraße 18 in 8000 München 40, erhältlich ist. Das Gespräch mit einem Verantwortlichen des Aubinger Kreises, Diplom-Psychologe Dr. Dieter Hellauer, führte Jürgen Tempel (AGG)1 .
Frage: Warum habt Ihr diese Veranstaltung durchgeführt?
Es ist eine erklärte Aufgabe, ein Ziel des Aubinger Kreises, sich mit Psychiatrie zu beschäftigen und zwar mit Psychiatrie in einer etwas anderen Weise, als Psychiatrie herkömmlich und in Deutschland praktiziert wird. Wir wollen Bestrebungen unterstützen, andere Wege zu gehen in der Psychiatrie.
In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass direkte Hinweise auf andere Wege wie z.B. auf Basaglia in Italien2 eher zu Ablehnung geführt haben und dass die Reformbemühungen, die auch zum Teil aus der Psychiatrie selber gekommen sind, wenig ausgerichtet haben. Ein anderer Weg ist es, die Psychiatrie und die Fehlentwicklungen in der Psychiatrie zu entlarven, indem man der Psychiatrie den Spiegel der Vergangenheit vorhält. Ich denke, dass auf diese Weise viele vor allem auch junge Psychiater nachzudenken beginnen, dass viele ihrer eingelernten Handlungen möglicherweise in so eine Richtung führen könnten, wie die Psychiatrie im Dritten Reich betrieben wurde.
Frage: Was kann ein Psychiater, der heute Patienten betreut, in diesem Spiegel erkennen?
Er kann erkennen, dass die Psychiatrie immer und auch heute noch der verlängerte Arm der Gesellschaft ist, und er kann sich entscheiden, ob er dieser verlängerte Arm, sprich: der Ausführende gesellschaftlicher Aufträge sein will, oder ob er versuchen will, einen anderen Auftrag zu erfüllen im Sinne eines wirklichen Heilens und Pflegens.
Frage: Wer könnte da Auftraggeber sein an Stelle des Staates?
Im Grunde ist immer der Patient der Aufraggeber und ich denke der Hippokratische Eid3 müsste an sich genügen.
Frage: Bei der Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung ist der Aubinger Kreis vom Kulturreferat der Stadt München unterstützt worden. Wie ist es dazu gekommen und welche Haltung hat das Kulturreferat eingenommen?
Die Stadt München verfügt über einen repräsentativen Saal, allerdings mit hohen Kosten. Aufgefallen ist mir, dass die Veranstaltung eigentlich zwischen allen Stühlen lag. Die Vertreterin des Kulturreferats, die an der Veranstaltung teilgenommen hat, war nicht für das Dritte Reich zuständig. Auch andere Vertreter waren nicht wirklich dafür zuständig, auch nicht die vom Gesundheitsreferat, die wir für das Thema interessieren wollten. Einen wirklich Zuständigen bei der Stadt München für diese Art von Veranstaltung gab es wohl nicht.
Frage: Wie ist heute die Lage der psychiatrischen Patienten. Welche Form von Ausgrenzung finden wir heute?
So bedauerlich das klingt, ich denke, es hat sich in der Psychiatrie seit den Praktiken im Dritten Reich relativ wenig verändert. Es ist immer noch die Arbeitsleistung einer der Anzeiger, ob einem Patienten geholfen wird oder intensiver geholfen werden wird oder nicht. Ob er in eine sozusagen bessere Abteilung, in ein besseres therapeutisches Haus kommt. Es werden nach unserer Meinung nach wie vor Gewaltmethoden, Zwangsmethoden angewendet in nahezu allen psychiatrischen Institutionen. Es werden fast ausschließlich in den meisten Häusern Psychopharmaka verabreicht und zum Teil in überhöhten Dosen. Es werden immer noch Schlafsäle betrieben mit bis zu zwanzig Patienten in einem Raum, was in allgemeinen Krankenhäusern, so weit ich weiß, längst Vergangenheit ist. Der Pflegesatz4 ist zwar in den letzten Jahren angehoben worden, aber es werden die Gelder im wesentlichen für organisatorische Dinge verwendet und kommen nicht den Patienten und schon gar nicht einer Therapie des Patienten zu gute. Auch am Beispiel der Zwangssterilisation, die immer noch durchgeführt wird vor allem an Frauen, lässt sich zeigen, dass die Psychiatrie nicht wesentlich anders verfährt als vor vierzig Jahren.
Frage: Nun findet man doch, dass zunehmend Psychologen in solchen Anstalten tätig sind. Können die an dieser Entwicklung etwas ändern durch ihre wissenschaftliche Ausbildung?
Also die Psychologen spielen die Rolle eines Feigenblatts, Von der Nußbaumstraße5 weiß ich zum Beispiel, dass die Psychologen fast ausschließlich für die statistische Abwicklung der wissenschaftlichen Publikationen zuständig sind. Soweit sie das nicht tun, müssen sie sich völlig den psychiatrisch-medizinischen Anschauungen unterordnen.
Frage: Welche gesellschaftspolitischen Aufgaben stellen sich jetzt?
Wir haben die Tendenz, dass das alles für abgeschlossen erklärt wird. In der Münchner Ärztekammer werden Debatten über die faschistische Vergangenheit im großen Ganzen mit Antrag auf Nichtbefassung und mehrheitlicher Ablehnung behandelt.
Von den Psychiatern, Psychologen und Ärzten und auch von der Gesellschaft sollte man verlangen, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen mit abweichenden Verhaltensformen toleriert werden. Sie sind aufzunehmen und zu betreuen soweit notwendig im Rahmen der Gesellschaft und nicht auszugrenzen. Ich weiß, das ist ein relativ hoher Anspruch, aber bei den Hilfsmöglichkeiten, die jetzt existieren – ich denke z.B. auch an die Sozialpsychiatrischen Dienste6 – und bei zusätzlichen Therapiemöglichkeiten der Psychotherapie u.a. müsste diese Aufgabe zu bewältigen sein. Die vorhandenen Krankenhäuser sind durchaus in der Lage, solche Patienten aufzunehmen. Ich meine, es ist keine Utopie, die Psychiatrie so wie sie heute existiert, abzuschaffen, auch die psychiatrischen Kliniken. Auch kleine Schritte, die in diese Richtung gehen, müssen und können heute schon versucht werden.
Münchner Lokalberichte 1 vom 10. Januar 1990, 3.
1 „Arbeitsgemeinschaft gegen reaktionäre Gesundheitspolitik“, c/o Jürgen Tempel, Siegfriedstraße 18, 8000 München 40..
2 Franco Basaglia ist wesentlicher Begründer der italienischen Reformpsychiatrie, deren wichtigstes Ziel es war, die psychiatrisch Kranken aus den Anstalten zu befreien und ihre gesellschaftliche Ausgrenzung zu beenden.
3 Gilt bis heute als moralische und standesrechtliche Grundlage ärztlichen Handeins, die den Umgang mit den Patienten regelt. Der Eid verbietet das Töten eines Patienten, auch das auf Verlangen.
4 Die Pflegesätze liegen in den psychiatrischen Krankenhäusern immer deutlich niedriger, teilweise bis 50 Prozent.
5 Psychiatrische Universitätsklinik in München.
6 Ambulante Betreuungsdienste, in denen verschiedene Fachberufe zusammenarbeiten.